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Befreiende Praxis
von Ronald Lutz
Was meint befreiende Praxis? Die wirkliche und grundlegende Bedeutung vor dem Hintergrund menschlicher Handlungen hat uns Freire gelehrt: Nur Menschen sind Praxis, Praxis, die, wie Reflexion und Aktion, wahrhaft die Wirklichkeit verwandelnd Quelle von Erkenntnis und Schöpfung ist. Durch ihre fortgesetzte Praxis schaffen die Menschen gleichzeitig die Geschichte und werden sie historisch soziale Wesen.
Ein durch Unterdrückung, durch Benachteiligung, durch Ausschluss, durch Drogen und Elend und schließlich durch den dauerhaften Bezug von Almosen verkümmertes Leben, das sich nur noch auf die Zahlungstermine und die Konsultationen der Hilfesysteme fixiert, ist seiner Praxis, seiner umgestaltenden, die Begebenheiten verändernden Praxis, enteignet. Es ist in dem Sinne entfremdet, das es sich selber fremd ist und in Resignation und Abhängigkeit versinkt, seine Praxis besteht nur noch in Klagen, in leeren Worten, dass ihm in seiner Abhängigkeit nicht genug gegeben wird, obwohl ihm doch mehr zustehe. Die Verantwortung über das eigene Leben wird sukzessive an Andere delegiert, die aber ebenfalls keine Worte sondern Codes, Gesetze und Regeln wie der Arzt seine Arznei verordnen.
Die „innere Empörung der Armen“ (Hegel), die wir täglich als Klagen hören können, muss stattdessen zur handelnden Entäußerung kommen. Sich von ihren Zwängen zu befreien, die nach innen und mitunter selbst zerstörerisch sein können, heißt, dass die Menschen ihre Empörung nach außen tragen und, vor dem Hintergrund eines grundlegenden Verständnis der Ursachen und Hintergründe, die darin lagernde und zugleich auch gefesselte Energie zum Ausgangspunkt neuer Aktionen machen. Befreiende Praxis wäre zunächst auch eine Befreiung von gut gemeinter aber letztlich fürsorglich belagernder Sozialer Hilfe, die vielfach, und das ist das Fatale in Zeiten zunehmend ökonomischer Orientierung Sozialer Arbeit, auch noch gut daran verdient. Warum befreien, wenn man mit der Abhängigkeit Geld machen kann?
Befreiende Praxis will deshalb, ausgehend vom Wort, das Praxis benennt, die Menschen aus Depression und Abhängigkeit führen, sie zu neuen Aufbrüchen, zu neuen Praxen befähigen, ihnen Räume zeigen, die sie sich öffnen und erschließen können durch ihre eigene sich entwickelnde Praxis, durch die allmähliche Verwandlung und das Verlassen ihres Labyrinths in einen überschaubareren und zufrieden stellenderen Garten, in einen, wenn man so will, gelingenderen Alltag, der sich jenseits des Labyrinths entdecken, gestalten und pflegen lässt.
Sozialarbeit als befreiende Praxis nimmt dabei originär Bezug auf das Humane, auf das Menschliche in seinem Kern; sie versteht sich als eine Investition in das Soziale durch Hoffnung, die sich in einem neuen Reichtum menschlicher Praxis akkumuliert.Sie setzt dabei auf Anerkennung und Achtung des Anderenalsprinzipielldialogfähigem, entwicklungsoffenemund kulturschöpferischem Wesen. Zu einer befreienden Praxis zählt deshalb auch der Glaube an die Menschen und deren Fähigkeiten sowie die notwendige Demut ihren bisherigen Lebensleistungen gegenüber; es erfordert, und das sei noch einmal betont, eine ungeheure Anstrengung ein Leben in düsteren Verhältnissen einigermaßen einzurichten.
Freirehat den Menschen als ein Wesen in Situationen, in Lebenslagen begriffen, er hat ihn nie isoliert betrachtet, sondern immer als Mensch mit anderen. Solch ein Wesen zu sein bedeutet aber auch das Eingebundensein in ein System der Benachteiligung und Diskriminierung zu sehen, das sogar zur Übernahme jener Bilder führen kann, die in einer Gesellschaft für Unterdrückte und Diskriminierte entworfen werden: In benachteiligenden Situationen übernehmen Benachteiligte oftmals eine fatale Selbstdefinition jener die gesellschaftlichen Beziehungen determinierenden Verhältnisse; sie handeln nach diesen Bildern und schreiben somit ihre Benachteiligung erst richtig fest. Benachteiligung hat Freire deshalb als einen Zustand begriffen, der im Benachteiligten die Benachteiligung real werden lässt, da dieser daran glaubt, dass er minderwertig und unfähig sei.
Eine jede Soziale Arbeit, die dies nicht grundsätzlich in Frage stellt, verstärkt diese Benachteiligung. Dies geschieht auch dann, wenn man zwar Benachteiligung lindern will, aber anstatt dessen neue pädagogische und soziale Entwürfe von außen aufzwingen möchte - auch wenn diese noch so gut gemeint sein mögen. Allzu oft verbirgt sich nämlich hinter der so genannten Lebensweltorientierung, die dem Ansatz einer befreienden Praxis durchaus nahe zu kommen scheint, eine Kolonialisierung von Lebenswelten, da in diese unter dem Signum an der Lebenslage orientierter Hilfen durchaus sanfte Kontrollorgane als sozialpädagogische und niedrigschwellige Angebote implementiert werden, die neuerlich über den Aktivierungscode Betroffene zur Selbsterziehung befähigen, sie zur Selbstregulierung gesellschaftlich normierter Anforderungen und Normen, „ermächtigen“ wollen. Das kann dann durchaus zu neuen Formen disziplinierender Kontrolle gerinnen, insbesondere dann, wenn Aktivierung fehl schlägt oder nicht die erwarteten Ergebnisse erzielt. Eine effiziente Elendsverwaltung ist immerhin im Wachsen begriffen.
Überhaupt greift derzeit ein Partizipationsmythos um sich, der alles und jeden beteiligen möchte. Dabei geht es mitunter nur um Zustimmung zu Maßnahmen, um die Erhöhung der Akzeptanz politischer Entscheidungen, die dann scheinbar von unten kommend das Handeln von oben legitimieren. Befreiung meint nicht Partizipation in diesem Sinne, es geht vielmehr auch darum verordnete Partizipation als Einengung zu sehen, die als „Eigenes“ verinnerlicht und dann scheinbar „freiwillig“ umgesetzt wird. Nicht alle und jeder muss beteiligt werden, es geht vielmehr darum Freiräume für Alltagsgestaltung, für die Praxis der Menschen, durch deren Praxis zu schaffen.
Deswegen verstehe ich Befreiung als das Erkennen des eigenen Wesens, der eigenen Fähigkeiten, die eingeengt und verkümmert sind, sich aber wieder jenseits der „Empörung“ entäußern und zu einer eigenen Gestaltung der Welt entfalten lassen. Es ist möglich aus der Resignation zur Aktion zu kommen, die Gegebenheiten umzubauen. Alles andere Denken und jede andere Praxis wäre eine Infantilisierung, eine Enteignung der Armen und Leidenden: immer nur die Verhältnisse als Ursachen zu benennen und damit das depressive und mitunter auch selbst schädigende Verhalten der Menschen zu entschuldigen ist eine Beleidigung des menschlichen Wesens, das auch in düsterer Situation zur Aktion drängt, das sich in eigener Gestaltung seiner Welt entäußern will.
Ein Wesen, das zu sich kommt, das seinen Platz in der Welt anders und entspannter als zuvor bestimmen will, ist immer ein Wesen, das angreift und agitiert. Es wird sich darin auch gegen jene Zustände wehren, die sein persönliches Labyrinth und das seiner Mitmenschen, eng fassen und den Ausgang versperrt halten. Befreiung heißt deshalb auch Befreiung von sozialarbeiterischem Kolonialismus, der mitunter nur eigenen Ideologien dient, indem allzu oft über die Kritik sozialer Verhältnisse, die Elend produzieren, die eigene Weltsicht zur eigenen Zufriedenheit und Bestätigung transportiert wird. In den herrschenden „Armutsdiskursen“ scheint es mir so auch allzu oft nur um politische und auch ideologische Kritik der Verhältnisse zu gehen und nicht um Wege, wie Menschen in diesen Verhältnissen zu sich selber finden können. Anderseits wird von den „Adressaten“ (Adressaten der Anweisungen) dann aber auch erwartet, dass sie sich so verhalten wie es der kolonialistische Blick der Sozialarbeit erwartet.
Selbstaktivierung durch eine befreiende Praxis kommt hingegen von innen, durch die wieder erkennbar und lebbar gewordenen Möglichkeiten des Wesens Mensch. Es will seinen Platz in der Welt besetzen und diesen renovieren, die Räume schöner und heller machen als zuvor, und jenseits des Labyrinths seinen neuen Garten bestellen. Dieses Wesen will sich auch am Markt der Möglichkeiten beteiligen, sein Einkommen durch eigene Tätigkeit sichern, es will dabei in der Gestaltung seiner Zukunft in Konkurrenz mit anderen treten, es will zeigen, was es kann. Darin nun, und das meint Befreiung in ihrem Kern, erkennt sich das Wesen immer auch als Soziales Wesen, das nicht allein auf der Welt ist; es gibt Mitstreiter und Konkurrenten. Befreiende Praxis ist zwar auch am Individuum orientiert, nur zwischen Menschen finden Begegnungen statt, doch dieses Individuum ist immer Spiegelbild und Teil des Sozialen, in dem es lebt und sich bewegt. Damit fokussiert sich Praxis auf Menschen als handelnde und zur Handlung befähigte Wesen, auf Menschen in communities; das Lokale wird zur Vision der Befreiung:
Die Kraft familiärer Bande, die einzig ernsthafte und Kulturen übergreifende und tatsächlich auch funktionierende Form sozialer Absicherung, insbesondere auch im Alter, und nachbarschaftlicher Unterstützung werden neu entdeckt, aufgebaut und ausgebaut. Community gewinnt an Bedeutung und Wert: es können Unterstützungskulturen neu wachsen, die unabhängiger von Alimentationen machen und somit auch ein höheres Maß an Unabhängigkeit garantieren. Nicht ein einzelnes Wesen kann befreit werden, obwohl die Praxis notwendig am Subjekt ansetzen muss, sondern der Mensch als ein Soziales Wesen, der Mensch in seiner sozialen Einbindung.
Unterstützungskulturen sind dabei kein nostalgischer Reflex des Vergangenen, sie setzen gedanklich nur dort an, wo Basisgemeinden, wie Kirchen und andere Kommunitäten, durch gegenseitige Verpflichtungen der Menschen Verantwortung entwickelten und noch immer entwickeln. Das gilt es neu und anders zu beleben; die Strukturen sind da. Es lässt sich nicht übersehen, dass es noch immer oder wieder jenseits aller Individualisierung latente oder auch manifeste und damit auch lebendige Traditionen sozialer Beziehungen und Netze gibt. Auch existieren überall Kirchengemeinden, Vereine und andere soziale Strukturen, die Unterstützung aktivieren können. Individualisierung meint in ihrem Ergebnis zudem nicht, dass die Menschen isoliert sind; sie hat nur die Optionen für selbst gewählte, selbst gestaltete und offene Beziehungen immens geweitet. Bei sich abschwächenden, tradierten sozialen Netzen wird es zur Aufgabe neue selbst zu knüpfen; in den Optionen sind neue Ligaturen zu entwerfen und auch zu erhalten. Diese können dabei sogar stärker als zuvor sein, da sie Produkt menschlicher Selbstgestaltung des Sozialen sind.
Eigentlich geht es in der Neugestaltung des Sozialen im Lokalen um eine Befreiung zum „Guten Leben“, das dabei aber immer eine doppelte Gestaltung hat: das Wesen Mensch will selber gut leben, indem es zu sich kommt; dieses Wesen kämpft zugleich für die Gestaltung des Sozialen, für das Gute Leben seiner Mitgeschöpfe. Das egoistische am Menschen, das nicht geleugnet werden soll, wird sich in einer befreienden Praxis bewusst, dass das eigene Leben nur dann gut sein kann, wenn es auch für andere gut ist: do ut des!
In dieser Dialektik des Guten Lebens wird deutlich, dass es eine in sich verschlungene Einheit ist: nur sich in eigener Praxis befreiende, aktive und angreifende Menschen können ihr Leben zu einem Guten entwickeln, indem sie zugleich für die sozialen Randbedingungen eines Guten Lebens, das (lokal)staatliche Aufgabe ist, zumindest Aufgabe der selbst gegebenen Ordnungsstrukturen, eintreten, diese immer wieder reflektieren, weiter tragen und umbauen. Praxis ist Entwicklung und kein Stillstand, kein Einfrieren auf erreichtem Stand, kein sich ausruhen. Befreiende Praxen Sozialer Arbeit, die dem „Guten Leben“ verpflichtet sind, werden insbesondere in einer Zeit von Bedeutung, in der „Kulturen der Armut“ sich neu formieren und der bisherige Umgang mit Armut, den Sozialarbeit traditionell pflegte, eher ein fürsorglicher war, ein Ansatz der Milderung extremer Auswüchse und Folgen, individuelle Armutskarrieren in ihrem Verlauf beeinflussen und das Schlimmste, vor allem für Kinder, verhüten wollte. Trotz aller modernen Rhetorik einer an der Lebenslage orientierten Ermächtigung, die dabei immer auch den strukturellen Blick auf Armutsursachen betonte, blieb diese Milderung individuellen Leids immer das eigentliche Ziel. Das wird in Zeiten einer sich ökonomisierenden Sozialen Arbeit besonders brisant, die sich derzeit vor allem auch als Zwei-Klassen-Sozialarbeit entwirft: effektive Hilfen dort, wo es sich lohnt und Erfolge absehbar sind und karitative Unterstützung und Notversorgung dort, wo Armut und Benachteiligung sich kulturell verfestigen und kein „Gewinn“ mehr zu erzielen ist. Elend wird zunehmend „notversorgt“, Suppenküchen werden dafür zum Symbol, und verwaltet.
Gegen diese „Zwei-Klassen-Sozialarbeit“ gerichtet liegt es deshalb an, Modelle aus der Befreiungspädagogik, die sich direkt und unmittelbar an den „Geist der Moderne“, an deren Menschenbild und Moral, anlehnen und Entwicklungsprojekte aus ehemaligen Drittweltkulturen als Orientierungshilfen zu sehen, die Eigenständigkeit betonen und eine befreiende Praxis entwickeln, indem sie über Decodierungen der individuellen und sozialen Labyrinthe neue Lebenschancen suchen. Das Schlagwort des capacity building, das wir vom Süden lernend für den Norden entdecken können, geht in diese Richtung: Zugänge zum Markt zu schaffen, um sich in den Kulturen der Armut jenseits von Resignation und Abhängigkeit Hoffnung zu bewahren und diese durch eigene Aktivitäten sukzessive auszubauen.
Die neue Soziale Frage besteht deshalb auch im Norden darin, dass wir uns fragen müssen, wie können Arme sich aus ihrer Unterdrückung befreien und sich ein Einkommen sichern, das ihre Lage verbessert und sie unabhängiger von Almosen macht. Wie also können in „Kulturen der Resignation“ neue Aufbrüche über Zugänge zum Markt möglich werden? Wie kann die „innere Empörung“ entäußert werden? Wie können sich Wesen in ihrer Praxis selbst in familiäre und nachbarschaftliche Unterstützungskulturen führen, die zugleich an der Vision, den Möglichkeiten, eines Guten Lebens arbeiten? Hierauf sind, um das Soziale in der erschöpften Moderne weiter zu entwickeln, in den nächsten Jahren Antworten zu finden.
Befreiung meint somit letztlich das Soziale als eine Investition zu begreifen um die Entfaltung von Humankapital zu befördern. Dafür muss der Mensch in der Arbeit an seiner Menschwerdung immer wieder Grenzen überschreiten; nur in einem Grenzgang, im aktiven Überschreiten von Grenzen, wird er sich seiner Menschlichkeit bewusst und setzt diese wirkungsvoll in Szene. Eine Soziale Arbeit, die ihm dabei neue Grenzen zieht, ihm eigene Entwürfe aufoktroyieren will, gefährdet von daher seine Menschlichkeit bzw. nimmt ihm die Chance zu deren Verwirklichung. Sie zieht Grenzen innerhalb derer sich der Betroffene nach moralischen und normativen Vorstellungen der Sozialarbeiter zu entfalten habe. Sich von diesen Grenzen und den darin fest gefügten Bildern zu lösen heißt deshalb mit Betroffenen ihre Situation zu „decodieren“, sie nachvollziehbar aufzudecken, damit diese sich nicht mehr als defizitäre Menschen entwerfen sondern sich als Wesen der Praxis sehen, die jenseits der Sorge auch Vorstellungen und Hoffnungen auf ein anderes Leben haben, diese entwickeln und auch umsetzen können.
Literatur
Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten, Reinbek 1973
Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit, Stuttgart 1974a
Freire, Paulo: Pädagogik der Solidarität, Wuppertal 1974b
Freire, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler, Reinbek 1981
Freire, Paulo: Pedagogia, dialogo y conflicto, Buenos Aires 1987
Freire, Paulo: Pedagogia de esperanca, Rio de Janeiro, 1992
Prof. Dr. Ronald Lutz
FachhochschuleErfurt – FB Sozialwesen
E-Mail: lutz@fh-erfurt.de