Das Theater der Befreiung als Instrument für zukünftige Bildungsstrategien: Erkennen heißt Verändern

von Dietlinde Gipser

"Jeder ist heute frei, aber jeder ist frei im eigenen Gefängnis; in dem Gefängnis, das sich jeder und jede selbst errichtet"

Bildung und Theater der Befreiung

Mit Bildung ist heute gewöhnlich all das gemeint, was der Mensch sich in der Auseinandersetzung mit der Welt erarbeitet und aneignet. In der Folge der Generationen geht es um die Übernahme von Kulturtechniken, Wissensbeständen und Verhaltensweisen durch die in eine Gesellschaft hineinwachsenden Menschen. Die Gesellschaft reproduziert sich in diesem Prozess, die Einzelnen erwerben Verhaltensweisen, Haltungen, Wissen und Qualifikationen zur Gestaltung ihres Lebens.

Unter bildungsökonomischen Gesichtspunkten wird Bildung zur Qualifikation, zur notwendigen Ausstattung des Individuums für soziale und wirtschaftliche Prozesse. In der Kulturanthropologie nähert sich der Bildungsbegriff dem Begriff des Habitus (Bourdieu) als der subjektiven Seite der Kultur, die ihr das Überdauern sichert. Unter pädagogischer und soziologischer Fragestellung rückt Bildung in die Nähe von Begriffen wie individuelle Selbststeuerung oder Verhaltensstabilisierung. Selbststeuerung wird in dem Maße notwendig, in dem bei Zunahme sozialer Mobilität die Wirksamkeit der Kontrolle durch soziale Instanzen von außen abnimmt.

Folgen wir sozialwissenschaftlichen Analysen unserer Gesellschaft, so haben wir uns von der Moderne zur Postmoderne bewegt. Das zeigt Auswirkungen auf die Entwicklung des Selbst und der Identität. „...wenn in der Moderne das Identitätsproblem darin bestand, sich eine Identität zu schaffen und sie zu festigen, liegt das Identitätsproblem der Postmoderne in erster Linie darin, Festlegungen zu vermeiden und sich Optionen offen zu halten. ... Die Moderne - eingelassen in Stahl und Beton. Die Postmoderne - verpackt in biologisch abbaubares Plastik. ... Die Schwierigkeit liegt also nicht mehr darin, eine Identität zu entdecken, zu erfinden, zu konstruieren, zusammenzusetzen (oder gar zu kaufen), sondern zu verhindern, dass sie einen einengt,dass sie gleichsam am Körper festklebt. Der Besitz einer soliden und gefestigten Identität wird zur Belastung. Dreh- und Angelpunkt postmoderner Lebensführung ist nicht der Aufbau einer eigenen Identität, sondern das Vermeiden des Festgelegt-Werdens."

Vor diesem Hintergrund entwickeln sich spezifische Ängste, die das Individuum der Postmoderne plagen. Der Anstieg von spezifischen psychischen Erkrankungen (Angstneurose, Panikattacken) ist ein beredtes Zeugnis der Risiken der neuen individuellen Freiheiten. Auch der Körper hat eine andere Bedeutung gewonnen. „Der postmoderne Körper ist zuallererst ein Empfänger von Erregung, die er aufsaugt und verdaut.... Ein negativer Ausschlag auf unserer Erlebnisskala wird sofort gleichgesetzt mit mangelnder Funktionsfähigkeit und erzeugt so Rastlosigkeit und permanente Frustrationen."

Soll eine Bildung der Zukunft den neuen Prozessen und Risiken Rechnung tragen, so muß sie diese Dimensionen in ihre Prozesse einbeziehen. In der theoretischen Dimension des Bildungsvorgangs geht es um die Erkenntnisfähigkeit, die jetzt die Fähigkeit zum reflexiven Bezug auf sich als vereinzelte Person beinhalten muß. Mit dem Ziel, sich selbst und die Welt zu begreifen, wird Bildung zu einem Prozeß kritischer Selbstaufklärung.

Auf der praktischen Ebene eignet sich der in Bildung begriffene Mensch Verhaltensweisen und Techniken an, die ihn in den gegebenen Kontexten handlungsfähig macht. Autonomie und Eigenverantwortung gewinnen an Bedeutung, sowohl als Bedingung des Lernens wie auch als Ziel des Bildungsvorgangs. Dies wird umso bedeutender, als die herkömmlichen, „naturwüchsigen" Sozialisationsinstanzen mehr und mehr an Bedeutung verlieren. Aktionsfähigkeit in sozialen Kontexten wird nicht mehr per se hergestellt, sie bedarf einer bewusst konstruierten Vermittlung, wie zum Beispiel im Setting des Theaters als einem Laboratorium mit Möglichkeiten der geschützten Begegnung von Menschen in einem mitgestaltbaren sozialen Kontext, in gemeinsamer Arbeit an Themen und Lösungen. Die Reflexion seiner subjektiven Befindlichkeit als Leib-Seele-Wesen im Verhältnis zum sozialen Kontext und zum kulturell oder gesellschaftlich Vorgegebenem erschließt dem Individuum über das Theater zudem eine ästhetische Dimension.

Das Theater der Befreiung enthält diese Dimensionen und bietet darüber hinaus die Probe auf die Zukunft, das heißt die Entwicklung von Veränderungsstrategien. Damit wird es möglicherweise ein interessantes Instrument für zukünftige Bildungsstrategien.

12 Thesen zum Einsatz des Theaters im und als Bildungsprozeß

  1. Das Theater der Befreiung von Augusto Boal basiert auf Paulo Freires Pä-dagogik der Unterdrückten; es stellt eine praktische Umsetzung der Ziele von Freires befreiender Pädagogik dar. Der Widerspruch zwischen alltäglich erlebter Unterdrückung und dem Bedürfnis nach einer humanen Gesellschaft ist die Grundmotivation des Theater der Unterdrückten, Veränderungsmöglichkeiten zu entwerfen.
  2. Augusto Boals Theater der Unter-drückten, Theater der Befreiung oder auch Theater der Begegnung, insbesondere das Forumtheater, lässt sich als emanzipatorischer Lern- und Forschungsprozess beschreiben, in dem bio-graphische Selbstreflexion und soziologisches Experimentieren im Hinblick auf Wirklichkeitsveränderung verknüpft sind.
  3. Wir erfahren zunehmend innergesellschaftliche Widersprüche: einerseits ist der Mensch heute von vielen ihn einengenden Strukturen befreit, traditionelle Rollenzuweisungen verlieren an Bedeutung; andererseits lebt der Mensch in steigender Abhängigkeit von Arbeitsmarktbedingungen und globalen Risiken. Nicht nur Chancen, sondern auch Risiken werden individualisiert. Versagen wird als persönliche Schuld gewertet und nicht kollektiv bewältigt, weder emotional noch in Form politischer Handlungen. Durch die Individualisierung von Risiken wird die Ideologie der Leistungsgesellschaft ins Unermessliche gesteigert. Verhaltenskonsequenzen sind Ohnmacht und Resignation oder aktiver und produktiver Widerstand.
  4. Die biographische Selbstreflexion, wie sie von Gudjons u.a. herausgearbeitet und für die Pädagogik fruchtbar gemacht worden ist, stellt den Versuch dar, durch Aktualisierung und Reflexion eigener Erfahrungen sich die eigene Biographie auf dem Hintergrund gesellschaftlicher Bedingungen anzueignen. Biographische Selbstreflexion geht aus von dem durch Habermas entwickelten Konzept der Bedeutung von Selbstreflexivität für die Emanzipation des Menschen.
  5. Auf dem Hintergrund der Theorie, dass alles Erkennen von Interessen geleitet und so ursprünglich mit der Lebenspraxis verknüpft ist, wird die Notwendigkeit einer Integration von innerer und äußerer Realität zur Bewältigung individueller und gesellschaftlicher Konflikte deutlich. Das Verstehen sozialer Zusammenhänge im Kontext der eigenen Lebenssitutation und damit verbunden das Bewusstwerden von Gewaltverhältnissen können eine Motivation zum Eingreifen in gesellschaftliche Praxisfelder hervorbringen.
  6. Das soziologische Experimentieren, wie es Brecht formuliert hat, zielt ebenfalls auf Erkenntnis der sozialen Wirklichkeit unter Einbeziehung subjektiver Bewusstseins-phänomene und ihrer Veränderung ab. Es ermöglicht einen veränderten, produktiveren Umgang mit unserem Alltagshandeln. Dabei wird der Lehr-Lern-Prozess als handlungs- und subjektorientierter Sozialforschungsprozess verstanden.
  7. Der Forschungs- und Handlungsprozess ist zugleich ein Bewusstwerdungsprozess. Mit seiner problemformulierenden Methode beschreibt Freire die Prozesse wechselseitiger Beeinflussung von Handlung, Sprache und Bewusstsein und macht diese für die Emanzipation nutzbar. Unterdrückung und soziale Isolation erzeugen eine Kultur des Schweigens, indem die Menschen ihres Wortes, ihres Ausdrucks und ihrer Kultur enteignet werden. Die Wiederaneignung schöpferischer Kompetenz im Prozess der Handlung und der Reflexion beendet im Gestalten neuer Haltungen und Bedeutungen die Resignation und die Passivität. Der Entwurf neuer Wirklichkeit bedarf der Ergänzung durch Handlungsentwürfe, die den Weg zur praktischen Umsetzung aufzeigen.
  8. Im Zentrum des praktischen Vorgehens steht das szenische Spiel. Im szenischen Spiel wird die Ebene des reflektierten Diskurses zeitweilig verlassen. Die beteiligten Personen spielen miteinander eine Szene, die sie aufgrund ihrer Alltagserfahrungen in bestimmten Bereichen entwickelt haben. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer probieren die verschiedenen, in der Szene enthaltenen Rollen mit unterschiedlichen Haltungen aus. Anschließende Selbstreflexion und Beobachtungsinterpretationen sollen gesell-schaftliche Probleme und Widersprüche im Verhalten deutlich machen. Im Forumtheater werden neue Handlungsentwürfe erprobt. Das Forumtheater zielt insbesondere darauf ab, für die, die in der gespielten Situation unterlegen und benachteiligt sind, Verhaltensweisen zu entwerfen und mit ihnen in einer Szene zu erproben, die sie aus ihrer Ohnmacht befreien können.
  9. Besondere Bedeutung für eine Verwendung des szenischen Spiels als Forschungsmethode gewinnt das Konzept des „Körpergedächtnisses", das auf der Basis der psychosomatischen Medizin, verschiedener Richtungen der Körpertherapie und der Schauspielarbeit Stanislawskis davon ausgeht, dass sich die lebensgeschichtlichen Erfahrungen eines Menschen auch auf der physischen Ebene des Körpers spiegeln. In den Haltungen und Bewegungen der Menschen, in der Art sich zu kleiden, in Arbeitstempo und -organisation, im Umgang mit Gefühlen, bis hin zu architektonischen Strukturen steckt ein System von Körpernormen. Es nimmt für die Entwicklung einer Kultur zentrale Bedeutung an. Wenn also der Körper in seiner je besonderen Ausformung ein sich wandelndes, kulturelles Produkt der Gesellschaft ist, dann zeichnen sich auch die herrschenden Entfremdungsstrukturen auf ihm ab. Dieses Körpergedächtnis gilt es zu aktivieren. Körperlich kreatives Handeln kann vielfältige Lernprozesse initiieren, deren Ergebnisse in der Struktur mehr dem alltäglichen, unbewussten Lernen ähneln. Das Gelernte, das sinnlich auf mehreren Ebenen erfahren wird, gewinnt an praktischer Brauchbarkeit.
  10. Der Einsatz des Forumtheaters vergrößert den Erkenntnisgewinn insofern, als über das szenische Verstehen auch subtile, nonverbale, indirekte Machtausübungen wahr-genommen und Situationen umdefiniert werden können. Die Theatralisierung von Lernprozessen fördert das Ausprobieren neuer Verhaltensweisen und die spielerische Veränderung von Situationen. Mit der Entwicklung von Phantasie und Kreativität wächst auch der Mut, sich in realen Situationen anders zu verhalten.
  11. Theatrales Handeln bildet soziale Zusammenhänge sowohl der eigenen wie auch einer fremden Kultur ab und macht sie zum Gegenstand der Betrachtung. Mit der Anwendung theatraler Methoden können die Normen und Regeln des Alltags und die Momente der eigenen wie auch einer fremden Kultur reflektiert werden.Das Fremde zu erschließen heißt aber auch, das Eigene zu begreifen, von dem das Fremde abgesetzt ist. Das Begreifen der eigenen Situation und der eigenen Kultur ist Teil des Lernprozesses, in dem die andere Kultur sich erschließt.
  12. Die damit verbundene Relativierung des eigenen Standpunktes ist kein selbst-verständ-licher Akt. Sie bedeutet auch Verunsicherung, mit allen psychologischen Begleit-erscheinungen wie Angst und Abwehr. Theaterarbeit kann diesen Lernschritt der Relativierung des eigenen Standpunktes und der Verbesserung des Verstehens anderer fördern und die dabei auftretenden Ambivalenzgefühle verfügbar und bearbeitbar machen. Kurz: Veränderungen können stattfinden im Hinblick auf die eigene Positionierung in einer klarer verstandenen sozialen Wirklichkeit.

Ein Beispiel und seine Reichweite

Szene in der Hochschule: Männerdominanz

Personen:

  • Paula: 25 Jahre, Referentin, selbstbewusst
  • Hedwig: 24 Jahre, Referentin, unsicher, erträgt die Situation nicht
  • Klaus: 26 Jahre, Student, macht sich über Frauen lustig
  • Kerstin: 22 Jahre, Studentin, desinteressiert
  • Maike: 25 Jahre, Studentin, desinteressiert
  • Resi: 28 Jahre, Studentin, hat „Wichtigeres" zu tun
  • Dr.Decker: 59 Jahre, Lehrender, distanziert sich von den Referentinnen

Das Seminar beginnt. Alle sitzen auf ihren Plätzen.

Dr. Decker: Das Referatsthema für heute lautet „Geschlechtsspezifische Sozialisation". Die Referenten haben es sich selber gewählt. Wir haben abgemacht,dass sie auch die Gesprächsleitung übernehmen. Na, dann fangen Sie mal an ...
Hedwig: Als Literaturgrundlage haben wir das Buch von Ursula Scheu „Wir werden nicht als Mädchen geboren, wir werden dazu gemacht" benutzt. Ich will zu Beginn eine wichtige Stelle zitieren: Wir werden nicht als Mädchen oder Jungen geboren, wir werden dazu gemacht! Was heißt das? Es heißt, dass Kinder vom ersten Tag an systematisch in eine Geschlechterrolle gedrängt werden, die wir „weiblich" oder „männlich" nennen. Dieser Prozess engt beide ein. Das Mädchen aber wird noch stärker als der Junge in seinen potentiellen Fähigkeiten beschränkt, in seiner Autonomie gebrochen und real benachteiligt.

Während Hedwig vorträgt, sitzen Kerstin und Maike desinteressiert herum und starren in die Gegend. Resi ist zeitweise mit anderen Dingen beschäftigt und Klaus zeigt nonverbale Ablehnung und macht Zwischenbemerkungen. Hedwig wird zunehmend verunsicherter.
Hedwig: Ich will noch mal kurz zusammenfassen ...
Klaus: Also, da muss ich auch mal was zu sagen. Ich stimme Euch da voll zu. Aber es fehlt mir der kulturspezifische Aspekt. In anderen Kulturen werden Menschen auch anders sozialisiert ...
Hedwig versucht mit leiser Stimme zu intervenieren.
Hedwig: Wenn ich dann erstmal mit dem weiter machen könnte ...

Doch Klaus lässt sich nicht unterbrechen. Er erzählt immer belustigter.
Klaus: Jetzt lasst mich mal ausreden. Es gibt da doch diese Untersuchung nach dem zweiten Weltkrieg, dass die amerikanischen Soldaten völlig erstaunt waren, dass die deutschen Frauen gleich nach dem ersten Kuss ins Bett gefallen sind ...

Klaus lacht herzhaft und schlägt sich auf die Knie. Hedwig verlässt kopfschüttelnd den Raum.
Paula: Warte doch, Hedwig!
Paula wendet sich Klaus zu.
Paula: Jetzt sieh, was du angerichtet hast! Merkst du denn nicht, dass dein Gerede Hedwig völlig fertig gemacht hat? Du hast überhaupt nichts kapiert.
Klaus: Wieso? Ich kann doch wohl einen inhaltlichen Beitrag leisten?
Paula: Inhaltlichen Beitrag? Das war total bescheuert, was du erzählt hast. Verstehst du das nicht? Und ihr anderen?

Paula wendet sich den Kommilitoninnen zu.
Paula: Ihr sitzt herum und sagt nichts. Und Sie?
Jetzt richtet sich Paula an den Dozenten.
Paula: Warum greifen Sie nicht ein?
Dr. Decker: Ich denke, der Kommilitone hat einen inhaltlichen Beitrag geleistet. Zugegeben, der Stil war sehr flapsig und unwissenschaftlich und das Beispiel etwas unpassend. Aber Ihre Kommilitonin hat doch wohl emotional etwas überreagiert. Da Sie den zweiten Teil vorbereitet haben, schlage ich vor, Sie fahren jetzt fort.

Diese Szene, die basierend auf den Hochschulalltags-Erlebnissen der Studierenden entwickelt worden ist, wurde hochschulöffentlich präsentiert. Das Publikum wurde aufgefordert einzugreifen und die Situation zu verändern und zwar aus der Sicht der benachteiligten Personen. Es wurden eine Reihe von Lösungsvorschlägen erprobt. Durch die Arbeit mit dieser Szene wurden sowohl Männerdominanz als auch die geschlechtspezifisch unterschiedliche Wahrnehmung solcher Situationen bewusst gemacht. Eine hervorragende Analyse dieser Begebenheit erfolgte in einer Diplomarbeit, in der Axel Hengst schlussfolgert: „Männer und Frauen haben in gleich- und gemischtgeschlechtlichen Gruppen Möglichkeiten, über eigene Wahrnehmung und eigene Täter- und Opfer-Handlungsformen zu reflektieren. Dabei muss die Arbeit in Männer- und Frauengruppen von gemeinsamer Arbeit ergänzt werden. Im Hochschulraum könnten ‘feminisierte’ Ansätze eine stärker reflektiv geprägte Auseinandersetzung mit Wissenschaft mit sich bringen und individuelle Wahrnehmungen von Wissenschaft, Universität und Kommunikation thematisieren. Im Zuge einer ‘Feminisierung’, die nicht ausschließlich Frauen vorbehalten sein kann, müssten Handlungsräume erschlossen werden, die die Identifikation und Auseinandersetzung mit ihnen ermöglichen. Solche Handlungsräume sind die Gestaltungsmöglichkeiten von Veranstaltungen (reflexive Arbeitsmethoden, Verbindung von Theorie und Lebenswelt), aber auch die Räumlichkeiten und informellen Freiräume, die den Wahrnehmungen und Identifikationen entsprechend bzw. sie kritisch ergänzend gestaltet werden können."

Seit 1979 biete ich an der Hochschule Seminare zum Theater der Unterdrückten/ Theater der Befreiung an. Seit 1987 führe ich gemeinsam mit Margret Bülow-Schramm kooperativ an den Universitäten Hannover und Hamburg ein Lehr-/Lernprojekt mit dem Titel „Der brüchige Habitus" durch, dem auch die obige Szene entnommen ist.

Wir wollten mit diesem Projekt der allgemeinen Resignation an der Universität etwas entgegensetzen. Dazu haben wir uns der Methoden des Theaters der Befreiung bedient und sie mit der Aneignung wichtiger gesellschaftstheoretischer Diskurse verknüpft.

Mit der szenischen Arbeit wird deutlich, was die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an dem Projekt in jedem Semester erlebt haben: Die Hochschule gewinnt an persönlicher und kultureller Bedeutung, verliert an Anonymität und Bedrohlichkeit. Kommunikationsbarrieren werden überschritten. Und alles dies macht nicht nur Spaß und verleiht dem Studium eine höhere Lebensqualität, sondern ermöglicht die Aneignung von Qualifikationen, die gerne als Schlüsselqualifikationen bezeichnet werden. Das Theater der Befreiung hat sich als ausgesprochen kreativitätsfördernd für praktische Problemlösungen vor Ort erwiesen. Studierende und Lehrende entwerfen gemeinsam ein Stück Zukunft.

Literatur:

  • Bauman, Zygmunt: Identitätsprobleme in der Postmoderne, in: Widersprüche 55, 1995
  • Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986
  • Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten, Frankfurt 1989
  • Bülow-Schramm, Margret / Gipser, Dietlinde (Hrsg.): Spielort Universität. 10 Jahre Lehr-/ Lernprojekt "Der brüchige Habitus". Hamburg 1997
  • Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten, Stuttgart 1971
  • Gipser, Dietlinde: Das Forumtheater. Spielend Wege des Handelns entwerfen und wählen, in: Datta, Asit (Hrsg.): Lehrspiele - Lernspiele, Hannover 1986
  • Gipser, Dietlinde: Grenzüberschreitungen - wühlen, wägen, wagen: Elf Jahre Erfahrungen mit dem Theater der Unterdrückten in verschiedenen Arbeitsfeldern, in: Ruping, Bernd (Hrsg.): Gebraucht das Theater. Die Vorschläge Augusto Boals: Erfahrungen, Varianten, Kritik, Lingen 1991
  • Gipser, Dietlinde: Grenzüberschreitungen: Theater der Unterdrückten an Hochschulen in Nah-Ost und West - Emanzipatorische Forschungsprozesse, in: Zeitschrift für befreiende Pädagogik 10, 1996
  • Gudjons, Herbert / Pieper, Marianne / Wagener, Birgit: Auf meinen Spuren: das Entdecken der eigenen Lebensgeschichte, Hamburg 1994
  • Habermas, Jürgen: Technik und Wissenschaft als „Ideologie", Frankfurt 1968
  • Hengst, Axel: Ich sehe was, was Du nicht siehst. Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Wahrnehmung des Hochschulalltags von Studentinnen. Diplomarbeit, Hannover 1991
  • Hengst, Axel: Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Wahrnehmung des Hochschulalltags, in: Bülow-Schramm/Gipser (Hrsg.): Spielort Universität, Hamburg 1997
  • Koch, Gerd: Lernen mit Bert Brecht. Bertolt Brechts politisch-kulturelle Pädagogik, Hamburg 1979

Prof. Dr. Dietlinde Gipser, Universität Hannover, Fachbereich Erziehungswissenschaften