Interkulturelle Pädagogik

Das Miteinander der Kulturen in Politik und Gesellschaft

von Joachim Dabisch

Vor nicht langer Zeit wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in einem wichtigen Punkt verändert, dem Recht auf Asyl. Auch wenn es der Tagespolitik nicht opportun erscheint, diese Diskussion neu zu beginnen, so müssen doch gerade diejenigen, die an die Tradition des Denkens Paulo Freires anknüpfen, hier das Demokratieverständnisses unserer Republik hinterfragen. Diese Frage ist nicht nur gegenwärtig bedeutsam, sondern wird zukünftig wieder die Diskussion anheizen. Kaum ein Problem wird die Gesellschaften Europas neben der Problematik des globalen Umweltzerstörung mehr in Atem halten als die Frage nach einem Interessenausgleich der unterschiedlichen Kulturen. Wanderungen sind ein Urphänomen der menschlichen Geschichte, wobei das moderne Verkehrswesen es heute den Menschen zusätzlich erleichtert, ihre ursprünglichen Lebensverhältnisse aufzugeben. Sie machen sich auf den Weg, weil sie ihre wirtschaftliche Lage aus unterschiedlichen Gründen wie Wirtschaftskrisen, Hungersnöten oder Naturkatastrophen nicht mehr ertragen können, oder sie fliehen vor politischer Gewalt, Krieg und Brutalität, vor nationaler, ethnischer, rassistischer oder religiöser Verfolgung.

Die Gesellschaften Europas sind, nachdem sie jahrhundertelang Menschen nach Übersee geschickt hatten, selbst zu aufnehmenden Ländern, zu Einwanderungsländern geworden. In den letzten zweihundert Jahren gab es eine Vielfalt von Wanderungsbewegungen in Europa:

  • Hunderttausende von Deutschen zogen im 19. Jahr-hundert nach Russland und in den Ostteil des Habsburger Reiches.
  • Fünfeinhalb Millionen Deutsche wanderten zwischen 1816 und 1893 in die Vereinigten Staaten aus.
  • Danach zogen noch einmal fünf Millionen Menschen aus Osteuropa mit dem gleichen Ziel durch Deutschland.
  • Es gab millionenfache Landflucht aus dem agrarischen Osten in den Westen.
  • Von den damaligen Ruhr-Polen, zwar Menschen mit preußischer Staatsangehörigkeit, aber polnischer Nationalkultur, zeugen heute noch die Familiennamen im Ruhrgebiet.
  • Saison-, Wander- und Fremdarbeiter wurden am Ende des vergangenen Jahrhunderts zu einer Massenbewegung; denn Landwirtschaft, Industrie, Straßen- und Kanal- und Hafenbau benötigen in Westeuropa Millionen von Menschen. Erst die Weltwirtschaftskrise beendete das Anwachsen dieser Ströme.
  • Und schließlich verschleppte das nationalsozialistischen Deutschland aus allen besetzten Gebieten Fremdarbeiter zu millionenfacher Sklavenarbeit und erbarmungsloser Barbarei.

Dieses Wanderungen der letzten 200 Jahre sind sozialwissenschaftlich erschöpfend ausgeleuchtet. Hinzukommt noch ein anderes Kapitel, nämlich das der Landnahme durch europäische Kolonisatoren. Sie sind nicht so stark dokumentiert, sondern finden sich oft in populären Zusammenhängen wieder, in Romanen und Filmen. Soweit heute in Europa eine Angst vor den Fremden vorhanden ist, müssten die Fremden doch weit mehr Angst vor den Europäern haben. In der Geschichte wird oft berichtet, wie es den Menschen der vereinnahmten Gebiete in den fünf Jahrhunderten des Kolonialismus erging.

Zum Umgang mit anderen Kulturen

Drei Beispiele sollen dafür stehen, wie Europäer in der Fremde mit anderen Kulturen umgegangen sind. Sie kamen nicht nur als Eroberer und Kriegsherren, sondern zerstörten oftmals die Grundlagen der sozialen und kulturellen Existenz überhaupt.

  1. Der katholische Bischof Bartolomé de Las Casas beschreibt den Untergang der Ureinwohner Hispaniolas. Er schrieb von einer Million Menschen, die von den spanischen Kolonisatoren auf Haiti umgebracht wurden: „Sie drangen unter das Volk, schonten weder Kind noch Greis, weder Schwangere noch Entbundene, rissen ihnen die Leiber auf, und hieben alles in Stücken, nicht anders als überfielen sie eine Herde Schafe, die in den Hürden eingesperrt wären" (Las Casas 1982, S. 15). Hier begann die Blutspur der Spanier und Portugiesen, hier war der Beginn des wohl größten Völkermords aller Zeiten. Er endete in der Zerstörung der mittelamerikanischen und andinischen Hochkulturen und der Vernichtung der Lebensgrundlagen der nordamerikani-schen Indianer durch Kolonisatoren aus allen europäischen Ländern.
  2. Zu anderer Zeit und an anderem Ort schrieb Karl Marx als genauer Beobachter und Analytiker am 25. Juni 1835 in der New Yorker „Daily Tribune" einen Beitrag, in dem er die Bedeutung der Bewässerungswirtschaft in ganz Asien darstellte: "England hat das ganze Gefüge der indischen Gesellschaft niedergerissen, ohne daß bisher auch nur die Spur eines Neuaufbaus sichtbar geworden wäre. Dieser Verlust seiner alten Welt, ohne daß eine neue gewonnen worden wäre, gibt dem heutigen Elend des Hindu eine besondere Note von Melancholie und zieht einen Trennungsstrich zwischen dem von England beherrschten Hindustan und den ehrwürdigen Überlieferungen seiner ganzen ge-schichtlichen Vergangenheit. ... Diese künstliche Fruchtbarmachung des Bodens, die vom Eingreifen einer Zentralregierung abhängt und sofort in Verfall gerät, wenn diese Regierung Bewässerung und Dränierung vernachlässigt, erklärt die sonst verwunderliche Tatsache, daß wir heute ganz große Gebiete wüst und öde finden, die einstmals glänzend kultiviert waren, so Palmyra und Petra, die Ruinen des Jemen und weite Landstriche in Ägypten, Persien und Hindustan; sie erklärt auch, wie ein einziger Verwüstungskrieg imstande war, ein Land auf Jahrhunderte zu entvölkern und es seiner ganzen Zivilisation zu berauben" (Marx 1972, S. 129).
  3. Das Leid Afrikas, der menschenverachtende Sklavenhandel, gehört ebenso zu den Erinnerungen der Menschheit, wie Europa mit den Fremden umgingen. Ein lebhafter Dreieckshandel zwischen verschiedenen europäischen Ländern, Afrika und Amerika begründete den heutigen Wohlstand. Analytische scharf zeigt ein Gedicht von Heinrich Heine das Elend des Sklavenhandels:

       Das Sklavenschiff
       ...
       Sechshundert Neger tauschte ich ein
       Spottfeil am Senegalflusse.
       Das Fleisch ist hart, die Sehnen sind stark,
       Wie Eisen vom besten Gusse.

       Ich habe zum Tausche Branntewein,
       Glasperlen und Stahlzeug gegeben;
       Gewinne daran achthundert Prozent,
       Bleibt mir die Hälfte am Leben.

       Bleiben mir Nigger dreihundert nur
       Im Hafen von Rio Janeiro,
       Zahlt mir hundert Dukaten per Stück
       Der Kaufmann Gonzales Perreiro.'

       ...
       Am Fockmast steht der Herr van Koek
       Und faltet betend die Hände:
       'Um Christi Willen verschone, o Herr,
       Das Leben der schwarzen Sünder!
       Erzürnten sie dich, so weißt du ja,
       Sie sind so dumm wie die Rinder.

       Verschone ihr Leben um Christi willn,
       Der für uns alle gestorben!
       Denn bleiben mir nicht dreihundert Stück,
       So ist mein Geschäft verdorben'"

      (Heine 1974, S. 345 ff.).
      

Diese drei Beispielen können für den Umgang mit den Fremden stehen. Der wirtschaftliche Siegeszug Europas begann im Zusammentragen der Schätze Asiens und Amerikas. Heute erscheinen die einstmals bedrängten Fremden bei uns. Sie kommen als Flüchtlinge vor Tod und Verfolgung hierher, sie kommen, weil ihr Leben in ihren Herkunftsländern armselig und hoffnungslos erscheint. Oder sie kommen, um hier zu arbeiten - zwar nicht in den eleganten Büros, sondern im Hochbau, auf Autobahnbaustellen, in Schlachthöfen, im Gartenbau und überall dort, wo körperliche Arbeit gefordert wird.

Weltweit gibt es augenblicklich über 100 Millionen Flüchtlinge, die aus ihren Heimatländern aus Furcht vor Hunger, Terror und Krieg fliehen. Will man diese Wanderungsbewegung reduzieren, müsste zuerst auf die Einhaltung der Menschenrechte in den jeweiligen Herkunftsländern gedrängt werden, müsste die wirtschaftliche und humanitäre Hilfe für diese Länder verstärkt werden. Inzwischen hat eine Migration mit kaum vorstellbaren Ausmaßen begonnen. Die Hauptlast dieser neuen Wanderbewegungen haben die armen Länder dieser Welt zu tragen. Wenn aber diese nationalen Gesellschaften zu stark belastet werden, wird dies weitere Migrationen auslösen. Europa wird hiervon nur gestreift, so dass im Vergleich zu den armen Ländern die nationale Belastung durch Zuwanderungen eher gering ist.

Das Bildungswesen

Wenn schon nicht das materielle Wohlergehen der Menschen hier durch die Wanderungsbewegungen beeinflusst wird, so ist die Geisteshaltung, die Hoyerswerda, Mölln, Rostock und Solingen hervorrief, nur schwer nachzuvollziehen. Es sind Menetekel einer Einstellung in dieser Republik, die bei der Abwehr von Asylbewerbern beginnt und in barbarischen Fanalen endet. Die Krise erschütterte die deutsche Gesellschaft und machte deutlich, dass es von Fremdenfeindlichkeit zum Ausländerhass nur ein kleiner Schritt ist.

Die aufgeklärte Öffentlichkeit fragt nach Ursachen und Zusammenhängen. In diesen Zusammenhang gehört die Erkenntnis der Krise des Erziehungswesens und besonders der Schule. Hartmut von Hentig zeigt fünf zentrale Schwächen der üblichen Unterrichtsschule auf: Die Schule sei erfahrungsleer, unwirksam, unbeliebt, lebensfern und fern aller Individualität (von Hentig 1993, S. 196 ff.). Er verlangt statt dessen die Aufnahme der konkreten Lebensprobleme der Schülerinnen und Schüler und danach erst die Berücksichtigung von Lernproblemen. Dies entspricht der Lebensweltorientierung in der Pädagogik Paulo Freires. Schule als Lebens- und Erfahrungsraum für Kinder zu gestalten, bedeutet für von Hentig zuerst: 1) Das Leben zulassen, 2) mit Unterschieden leben, 3) in der Gemeinschaft leben und 4) den ganzen Menschen entfalten.

Dazu bedarf es aber veränderter Strukturen im Bildungswesen, weil die alte Schule mit ihren lehrplanorientierten Unterrichtsbeamten dies nicht annähernd leisten kann. Beteiligung an Verantwortung und die gleiche Verteilung von Chancen für alle müssen vielmehr als Grundlage für ein künftiges Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft akzeptiert sein. Das Besprechen von Ausländerfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen oder das Bereitstellen kurzfristiger Finanzierungsmittel werden allein kaum weiterführen. Gefordert ist das dialogisches Lernen aller am Erziehungsprozess Beteiligten.

In der Bundesrepublik leben fast sieben Millionen ausländische Staatsangehörige, darunter fast zwei Millionen Türken und Kurden und über eine Million Serben, Kroaten und Bosnier. Millionen von Migrantenkinder müssen das Lesen und Schreiben deutscher Wörter trainieren. Doch dies sind nur zu oft Spachhülsen, deren Sinn den Kindern nicht aufgeht. Die ei-gene Kultur oder nur die eigenen Lebensumstände kommen in diesen Übungen kaum vor. Nicht nur Buchstaben und Wörter müssen vermittelt werden, sondern auch die Inhalte und Bedeutungen der Be-griffe, ebenso die konkreten Erfahrungen der Kinder mit den Gegenständen und Sachverhalten. Hier ist eine dialogorientierte zweisprachige Alphabetisierung gefordert, deren generative Begriffe der Lebensumwelt sowohl der einheimischen als auch der Migrantenkinder entspricht.

Diese Methode einer Alphabetisierung mit Begriffen von zentraler Bedeutung aus den Lebensumständen der Menschen macht den Kern befreiender Pädagogik aus: nämlich die Menschen zu befähigen, ihren eigenen kulturellen und gesellschaftlichen Wurzeln zu ver-stehen und ein Instrumentarium zu entwickeln, aus eigener Kraft ihre be-nachteiligte Lage zu verändern. Paulo Freire hatte Anfang der 60er Jahre in brasilianischen Landarbeitersiedlungen und in chilenischen Slums mit befreiender Alphabetisierung begonnen. Er bewies, dass Menschen innerhalb eines 40stündigen Kurses Lesen und Schreiben erlernen können (Gerhardt 1979).

Die Stellung eines Lehrers oder einer Lehrerin verändert sich im dialogischen Lernprozess erheblich. Ein Beispiel aus den Erinnerungen Paulo Freires kann dies verdeutlichen. Er schildert hierbei die Situation in einem brasilianischen Fischerdorf: „Dabei hatte ich immer ein Notizbuch bei mir und schrieb jedes Wort auf, das ich nicht verstand, und fragte sie danach: Was bedeutet das? So lernte ich verstehen, wie sie denken, durch ihre Sprache. Als ich dann anfing, mit ihnen über Erziehung in ihrer Welt zu sprechen, gebrauchte ich ihre Sprache, ihre Bilder. Ich lernte Bilder von den Leuten. Sie haben einen kleinen Wortschatz, und um sich auszudrücken, müssen sie ihre Wörter vervielfachen durch Bilder" (Dabisch/Schulze 1991, S. 14). Diese Form der Begegnung mit den Fremden stellt eine neue Qualität dar. Mit ihr ist zu lernen, wie wir auf Einwanderer, auf fremde Men-schen zugehen können. Es ist wichtig von Fremden zu lernen, um sie zu verstehen, wollen wir nicht selbst als Fremde unverstanden im eigenen Land bleiben.

Ein neues Staatsbürgerrecht

Im November 1990 verabschiedeten auf dem Pariser KSZE-Gipfel 34 Staats- und Regierungschefs die „Charta für ein neues Europa". Sie fordert ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit nach dem Grundsatz „Freiheit muss grenzenlos sein". Doch dem gegenüber stehen die Befürchtungen, dass sich die Menschen wirklich aufmachten könnten, diese grenzenlose Freiheit zu suchen. Allein aus dem Osten Europas und aus den Staaten der GUS werden für die nächsten Jahre mehrere Millionen Einwanderer nach Westeuropa erwartet.

Die Gesellschaft muss den Einwanderungen dafür ein Konzept für Zuwanderung und Integration bereit stellen. Es ist eine Fehlinterpretation von Politik, wenn durch Verschlechterung des Status oder eine Minderung sozialer Aufwendungen an Zu-wanderer versucht wird, die Attraktivität für Einwanderungen abzusenken. Zugrunde liegt dabei die Vermutung, Zuwanderung sei in der einheimischen Bevölkerung generell unerwünscht. Dies kann allerdings so nicht verallgemeinert werden; denn bei einem geglückten Beieinander gibt es kaum Schwierigkeiten im täglichen Leben. Aufgabe einer Einwanderungspolitik muss es somit sein, für diejenigen, die längere Zeit oder auf Dauer bei uns bleiben möchten, im dialogischen Miteinander diese Integration zu ermöglichen.

Vorbedingung ist dazu die gleichberechtigte Teilhabe am Rechts-, Sozial- und Wirtschaftssystem des jeweiligen Gastlandes. Auch den nur vorübergehend Zugewanderten besteht die Verpflichtung gegenüber, ihnen eine menschliche Existenz zu er-möglichen. Ein Teil der Schwierigkeiten und Missverständnisse zwischen einheimischer Bevölkerung und Zuwanderern hat seine Ursache in der Vernachlässigung und zum Teil bewussten Unterlassung von Aufgaben, die der Integration dienen. Diese Aufgaben beziehen sich überwiegend auf die Lebensbereiche Wohnung und Ausbildung und Beruf sowie auf den Verzicht von Assimilation. Die Grundlage hierfür bildet ein neu konzipiertes Staatsbürgerrecht.

Dem Lebensbereich Wohnen kommt eine besondere Bedeutung zu. Wenn auf dem knappen Wohnungsmarkt Teile der sozial schwachen einheimischen Bevölkerung mit Gruppen von Einwanderern konkurrieren, so ist ein Konfliktpotential offensichtlich. Soziale Aufgabe ist hierbei die Wiederbelebung des sozialen Wohnungsbaus, wenn nicht die Integration schon im ersten Ansatz steckenbleiben soll. Es bedarf nicht so sehr komfortabler Neubauten, sondern funktionaler und bezahlbarer Wohnungen, die weniger die Unbewohnbarkeit unserer Städte zur Folge haben, als vielmehr kommunale Grundeinheiten bilden. Vor allen Dingen müssen die Probleme aller Menschen in den benachteiligten Wohngebieten ernst genommen werden, soll sich hier nicht ein vermeidbares Potential an Gegnerschaft zu den Zugewanderten entwickeln.

Ebenfalls ist auf dem Bildungs- und Ausbildungssektor eine Konkurrenz zwischen einheimischen Jugendlichen und Zugewanderten mit teilweise fehlenden Sprachkenntnissen vermeidbar. Hier kann die Bildungspolitik der Bundesländer eine weitergehende Öffnung vollziehen. Nicht so sehr die den Bedürfnissen der Gesellschaft zuarbeitende Schule wird erforderlich sein, sondern eine Schule, welche die Bedürfnisse der Jugendlichen erkennt, ihre Sprache und Bilder versteht, die Lebens- und Erfahrungsraum bietet und die sich dem Nachbarschaftsfeld öffnet. Integration wird in der Öffentlichkeit oft mit Anpassung an eigene Gewohnheiten missverstanden. Hier muss deutlich gemacht werden, dass die Zugewanderten die Kultur und Sprache ihres eigenen Herkunftslandes bewahren sollen, um gleichzeitig heimisch zu werden in der für sie fremden Umwelt. Durch das Öffnen der eigenen Kultur erleben auch die Einheimischen Bereicherung und Ausweitung ihres Horizontes.

Weiterhin ist das Staatsbürgerrecht gründlich zu bedenken. Das Prinzip des Geburtsortes sollte für eine Staatsbürgerschaft ent-scheidend sein, nicht die genetische Abstammung. Menschen, die seit vielen Jahren hier leben, muss eine unbürokratische Eingliederung in das deutsche Rechtssystem ermöglicht werden, wobei auch eine doppelte Staatsbürgerschaft zu akzeptieren ist. Die Zukunft gehört ohne Zweifel der multikulturellen Gesellschaft. Wer nicht sein Leben lang nur den eigenen Tellerrand erfahren möchte, hat keine andere Alternative als das multikulturelle Miteinander. Nur zu Beginn der restaurativen 50er Jahre war die Bundesrepublik nahezu „ausländerfrei", die USA lagen damals in unerreichbarer Ferne und einen „Neger" hatte kaum ein Schulkind jemals wirklich gesehen.

Die Bundesrepublik benötigt dringend ein Einwanderungsgesetz, um einen institutionellen Rahmen für die Zuwanderung zu geben. Das zu schaffende Gremium, das zu über die Zuwanderung befinden muss, sollte sich dialogisch aus allen gesellschaftlichen Gruppen zusammensetzen, um so einer einseiti-gen Ausrichtung auf die Belange der Wirtschaft entgegenzuwirken. Die in den 60er Jahren begonnene Anwerbung von Gastarbeitern hatte eine bedauernswerte Ausrichtung erhalten, weil vergessen wurde, dass zwar Arbeitskräfte gesucht wurden, in erster Linie aber Menschen ins Land kamen. Erst das Land, das aus Zugewanderten Bürger macht, ist ein zivilisiertes Land.

Erfahrungen mit Einwanderungsgesetzen haben die nordamerikanischen Länder. Dirk Hoerder fordert auf dieser Grundlage auch für die Bundesrepublik eine Zuwanderungsgesetzgebung, die sich aus den Teilen Aufnahmegesetz, Überführungsgesetz, Integrationsgesetz und Antidiskriminierungsgesetz zusammensetzen müsste (Hoerder, S. 16). Im Aufnahme bzw. Überführungsgesetz sollte, so Hoerder, das Einreise- und Aufenthaltsrecht verschiedener Gruppen von Zuwanderern geregelt sein: Asylbewerber, Flüchtlinge nach Genfer Flüchtlingskonvention bzw. Kontingentflüchtlinge, Arbeitswanderer und Einwanderer aus Nicht-EU-Ländern, ausländische Studierende und Wissenschaftler sowie Aussiedler, wobei für jede Gruppe nach amerikanischem Vorbild Quoten festgelegt werden könnten. Integrations- und Antidiskriminierungsgesetz bildeten dann den eigentlichen Kern des Zuwanderungsgesetzes. Es ermöglicht den Zuwanderern ohne psychischen Druck, die Lebensgewohnheiten und Sprache des Gastlandes kennenzulernen. Die ethnische Herkunft darf bei den unter-schiedlichen Erhebungen keine Rolle spielen, ebenso müssen Medienberichte ethnisch neutral abgefasst werden.

Eine gesetzliche Regelung kann sich danach ausrichten Diskriminierungen zu bestrafen und Zuwanderer vor Angriffen und Benachteiligungen zu schützen. Die multikulturelle Gesellschaft wird nicht um gesetzliche Regelungen herumkommen um Vorurteile abzubauen und eine zunehmende Gleichberechtigung durchzusetzen. Dennoch darf die Forderung nach einer gesetzlichen Grundlage nicht davon ablenken, dass politischer Wille und ökonomischen Rahmenbedingungen letztlich über die Herstellung der Gleichberechtigung entscheiden, ohne die auf Dauer keine multikulturelle Gesellschaft existieren kann. Die Hauptschubkraft für eine Änderung der gesellschaftlichen und politischen Bewusstseinslage wird einerseits durch kulturelle Aktionen der Minderheiten für ihre eigenen Rechte kommen, andererseits bedarf es der dialogischen Unterstützung durch eine zwischenmenschliche Kultur mit neuen Bewusstseinsinhalten.

Das Asylrecht

Im Augenblick korrespondiert noch mit den wirtschaftlichen Interessen an den Ausländern die teilweise bewusst eingeschränkte Betrachtungs- und Ausdrucksweise in unserem Land. So spielt in der Diskussion um die Probleme der Asyslbewerber der Begriff „Wirtschaftsflüchtling" eine besondere Rolle. Historisch ist dieses Wort aus der Ideologie des Nationalsozialismus abgeleitet, als die Juden, die nicht aus politischen, sondern aus rassistischen Gründen Deutschland verlassen mussten, als „Wirtschaftsemigranten" bezeichnet wurden. Auch heute wird der Begriff wieder benutzt, den Flüchtlingen die Notwendigkeit einer Flucht abzusprechen, wobei ihnen sogar Missbrauch des Asylrechts unter-stellt wird. Auch bei der inzwischen eingetretenen Gesetzesänderung des Grundrechts auf Asyl wurde tragischerweise mit der aus dem Nationalsozialismus übernommenen Terminologie für die Einführung des Artikels 16a GG argumentiert.

Der Artikel 16 GG war im Parlamentarischen Rat gerade als Hauptargument zum Schutz der vormaligen „Wirtschaftsemigranten" in das Grundgesetz aufgenommen worden. Es ist notwendig, dass noch einmal der vormalige Innenminister Zimmermann zitiert wird (1989): „Die Zunahme der Zahl der Asylbewerber kann nicht auf politische Verfolgung zurückgeführt werden. Mehr als 90 Prozent sind nicht politisch Verfolgte, sondern kommen überwiegend als Wirtschaftsflüchtlinge in unser Land" (Asylstatistik des BMI vom 4.1.1989).

Mit dem neuen Asylverfahrensgesetz wird beabsichtigt angebliche „Asylmissbraucher" aus dem Land zu weisen. Die extrem kurzen Verfahrensfristen bedeuten aber auch, dass das Grundrecht nicht immer wahrgenommen werden kann. Die Gefahr des Rücktransports politisch Verfolgter in die Hände der Verfolger wächst damit beträchtlich. Aber die gleichen Politikerinnen und Politiker, die aus populistischen Beweggründen das Grundrecht auf Asyl eingeschränkt haben, bekunden Abscheu bei den schlechten Nachrichten des Fremdenhasses in Deutschland; glaubwürdig wird Politik damit auf keinen Fall.

Das Recht auf Asyl gilt vielmehr als unveräußerliches Menschenrecht. Es stellt ein einklagbares Grundrecht dar, das jedem einzelnen Flüchtling zugesprochen wird. Das Asylrecht gehört damit nicht zu den Souveränitätsrechten des Staates, sondern zu den seit der Französischen Revolution und der Aufklärung geltenden Menschen- und Bürgerrechten. Diese dürfen nicht in das Wohlwollen des jeweiligen Staates gestellt werden. Ursprünglich hatte das Recht auf Asyl im Grundgesetz eine neue Qualität erhalten. Es war von Emigranten für Emigranten geschaffen worden. Und es wurde ganz bewusst zu einem allgemeinen und gerichtlich voll nachprüfbaren An-spruch politisch Verfolgter auf Asyl ausgebaut. Es ist nachweisbar, dass im Parlamentarischen Rat auch Probleme ei-nes sogenannten Missbrauchs des Asylrechts mit bedacht worden sind. Es wurde damals schon deutlich, dass jede Modifizierung des Rechts auf Asyl letztlich die Aufhebung dieses Grundrechts bedeuten würde. Die persönlichen Erfahrungen der Ratsmitglieder haben über alle Parteigrenzen hinweg nach langen kontroversen Diskussionen zu einem klaren Votum für den bis zur Änderung geltenden Asylrechtsartikel geführt. Der reine Pragmatismus des veränderten Asylrechts wirkt dahingegen kalt und menschenverachtend.

Die erfolgte Änderung des Asylrechts in Deutschland bedeutet nun, dass rein äußerlich der Artikel 16 Ab-satz 2 Satz 2 GG unverändert erhalten geblieben ist: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht." In den Zusätzen wird allerdings alles darangesetzt, dieses Recht nicht einlösen zu müssen. Die einschneidenste Änderung des Asyl-rechts besteht in dem hinzugefügten Artikel 16a (2). Dort wird eine Berufung auf das Asylrecht ausgeschlossen, wenn der politisch Verfolgte über ein sogenanntes sicheres Drittland eingereist ist. Welches Drittland als sicher gelten kann, wird durch den jeweiligen Gesetzgeber nach den Kriterien der Gen-fer Flüchtlingskonvention festgelegt.

Aber wer Menschen schon der Grenze zurückweist, will sein einmal mit hohem Verfassungsrang bedachtes Asylrecht nicht mehr anwenden und hebelt damit das humanistisch hohe Ziel des Grundgesetzes aus. Die Grundgesetzänderung in Bezug auf den Artikel 16 ist nicht ehrlich. Sie empört moralisch denkende Menschen, vor allem auch junge Menschen. Ein Gesetzgeber, der die Rechtskultur nicht mehr ernst nimmt, entfremdet sich von seinen Bürgern, von denen umgekehrt Akzeptanz und Einordnung in das geltende Rechtssystem verlangt wird. Im Miteinander der Kulturen hat hier die Politik eine Herausforderung nicht bestanden.

Furcht vor den Fremden erscheint oftmals als die Folge eigener Furchtsamkeit. Wenn Migration als Bedrohung gesehen wird - nichts anderes ist ja der Hintergrund des veränderten Asylrechts -, dann müssen auch reale Belastungen und Konflikte in der einhei-mischen Bevölkerung ernst genommen werden. Überfremdungsängste können entstehen, wenn gewohnte Lebensweisen der einheimi-schen Bevölkerung sich auflösen. Erstaunlich ist dabei die wissenschaftliche Erkenntnis, dass die größten Konflikte nicht an den Orten ausbrechen, an denen tatsächlich die meisten Migranten wohnen, sondern an Orten, an denen durch eine allgemeine Hysterie vor einer möglichen Überfremdung Missfallen erzeugt wird.

Deutlich kann davon gesprochen werden, dass die Furcht vor den Fremden - die Fremdenfeindlichkeit - nicht aus dem konkreten Verhalten der Zugewanderten herrührt, sondern aus eigenen Selbstzweifeln, eigenen Unzulänglichkeiten und eigener Furchtsamkeit. Die Probleme bestehen unabhängig von der realen Existenz der Fremden in der Gesellschaft. Dies sollte auch von Politikern so erkannt werden; denn andernfalls werden ständig falsche, populistische Schlüsse gezogen. Einer dieser falschen Schlüsse ist die Annahme, durch Zurückdrängen der Fremden würden sich viele soziale Probleme der eigenen Wählerschaft erledigen. Das ist gleich ein doppelter Trugschluss; denn einerseits kann die Zuwanderung faktisch nicht gestoppt werden, andererseits wird zur Problemlösung der eigenen Bevölkerung wenig beigetragen. Es kann nicht zugegeben werden, dass einzig ein nicht ausreichend geschärftes Bewusstsein Ursache der Fremdenfeindlichkeit ist.

Wir brauchen demnach nicht nur ein neues Denken in der Schule, sondern auch in Politik und Gesellschaft. Neben dem neuen Denken bedarf es auch eines neuen Handelns. Die Furcht vor der Freiheit kann nur durch Beschreiten des Weges der Befreiung aufgehoben werden. Die Chance zum Überleben liegt im Ausprobieren neuer Wege, im Überwinden der Furchtsamkeit, bei der politischen Bewusstwerdung der eigenen Kräfte. Was hier noch als Überforderung verstanden werden kann, ist morgen vielleicht schon als Herausforderung zu erkennen. Entweder wir gestalten einen Gesellschaftsabschnitt mit der Entwicklung von Freiheit, oder wir überlassen die Gesellschaft einer Mentalität des Ellbogens. Auch wir leben wieder in einer Schwellenzeit, auch wenn politischer Konformismus diese überdecken will. Eine der Aufgaben für die Zukunft besteht in der Entwicklung der multikulturellen Gesellschaft. Viel für die innere Qualität der Demokratie hängt davon ab, ein Miteinander der Kulturen zu schaffen.

Literatur

  • Bartolomé de Las Casas: Kurzgefaßter Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder, herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt/M. 1981
  • Paulo Freire/ Heinrich Dauber: "Ich fuhr mit den Fischern aufs Meer", in: Joachim Dabisch/ Heinz Schulze: Befreiung und Menschlichkeit, München 1991
  • Ute Gerhard: Wenn Flüchtlinge und Einwanderer zu „Asylantenfluten" werden, in: Frankfurter Rundschau v. 19.10.1991
  • Heinz-Peter Gerhardt: Zur Theorie und Praxis Paulo Freires in Brasilien, Frankfurt/M. 1979
  • Heinrich Heine: Das Sklavenschiff, in: Heines Werke Bd. 1, Berlin u. Weimar 1974
  • Hartmut von Hentig: Die Schule neu denken, München u. Wien 1993
  • Dirk Hoerder: Einzellösungen kommen zu spät und helfen nicht weiter, in: Frankfurter Rundschau Nr. 297/1992, S. 16
  • Karl Marx: Die britische Herrschaft in Indien, Marx-Engels-Werke Bd. 9, Berlin 1972