Philosophie

Das dialogische Prinzip bei Paulo Freire

von Dieter Brühl

Paulo Freires pädagogisch-philosophisches Werk ist in einer Unzahl von Analysen ausgelotet, die Sensoren der Wissenschaft registrieren, was zu registrieren war und ist, Kritik und Gegenkritik der Ideen Paulo Freires und seines pädagogischen Handelns haben den Sozial- und Erziehungswissenschaften zu fruchtbarer Dynamik verholfen. Unzählige Schulen und pädagogische Institutionen in aller Welt tragen seinen Namen: die „Methode Paulo Freire" ist in Afrika, Lateinamerika, Asien und auch Europa zum Symbol für erfolgreiche Überwindung des Analphabetismus geworden, für die Mündigkeit und die Würde der Geschundenen dieser Welt.

Sein Freund und Biograph zu Lebzeiten, Moacir Gadotti, mahnt uns allerdings, über all dem, so auch in dem Streit, was denn nun Paulo Freire „sei", Philosoph, Historiker, Erziehungswissenschaftler, Erkenntnistheoretiker, Methodiker, Methodologe, Politiker oder gar Soziologe, sich nicht der Unmittelbarkeit von Sinn des gesprochenen, geschriebenen und gelebten Wortes Paulo Freires selber zu entziehen, sondern dort Antworten jedesmal neu in der eigenen Lesart zu suchen und zu finden. Der mögliche Wert solcherart subjektiver „Perspektiven" (Husserl) für das wissenschaftliche und soziale Verständnis Paulo Freires, erlaubt es dann am ehesten, die wissenschaftliche Leistung Paulo Freires zu würdigen. Gleichzeitig gilt es zu verhindern, daß der große, kleine bärtige Mann aus dem Nordosten Brasiliens und seine „Pädagogik der Befreiung" zu einem der großen Mythen unserer Zeit entrückt wird - verklärt, verehrt, geglaubt, legendär, aber zunehmend ferner dem politischen und pädagogischen Alltagsgeschehen, vor allem in den Schulen und Hochschulen.

Mythen

Mythologisierung als ein sozialer Prozeß (nicht Mythen als solche) würde dem, was Paulo Freire beabsichtigt, entgegenstehen: Conscientização, als die Selbstentdeckung des Subjektes, als Aufklärung in ihrem tieferen, optimistischen Verständnis, als Akt der Befreiung ist auch Entmythologisierung, aber im Sinne dialektischer Aufhebung. Alles, was Mythen benutzt, um soziale und ökonomische Macht zu beglaubigen, um Unrecht zu „Recht" und Kultur zu einer „Kultur des Schweigens" werden zu lassen, wird zum Gegenstand dieser grundlegend pädagogischen und - vor allem - politischen Praxis, die das Kontinuum von Bewußtwerdung und Handeln wiederherstellen sucht. Nichts kann das „sinnstiftende Subjekt" (Luhmann) neutralisieren, keine noch so ausgefeilte methodische Vorhebung moderner Wissenschaft kann es in die Objektwelt bannen - ja letztere würde uns unzugänglich, fremd ohne die Bewußtseinsakte des handelnden Subjekts.

Die Mythen selbst sind aber für Paulo Freire Ausdruck des „status quo" kulturellen Handelns, der nicht selten sisyphalen Anstrengungen von Menschen, die Widersprüche des Lebens ertragbar zu halten, zu „über"leben. Sie stellen für ihn - vielleicht im Sinne von Lévi-Strauss - die notwendigen Ausprägungen strukturellen Praxiswissens dar, das Menschen über Generationen als Alltagswissen bildhaft verdichtet und nicht selten in ihr religiöses Grundempfinden eingefügt haben.

Der Nordosten Brasiliens ist reich an solchen, in Mythen kondensiertem Wissen und Empfinden: Die Erklärung des Auf und Ab der Natur, die Heilkunde, der Umgang mit Leben und Tod, mit den Katastrophen; das gesellschaftliche und religiöse Leben und manches andere des Lebensalltages sind in Mythen und den an ihnen orientierten Regelwerken sinngebend für die Menschen eingebunden. Mythen sind der Stoff, aus dem im Nordosten Hoffnung entsteht. Der Dialektiker Paulo Freire geht deshalb mit den Mythen der Menschen sehr einfühlsam um: Es ist es wert im pädagogischen Prozeß zu ihrem rationalen Kern vorzudringen, sie sind nicht selten der Schlüssel für pädagogisches Handeln, für die Entwicklung des Menschseins.

Das dialogische Prinzip

So besteht das, was in den Alphabetisierungskampagnen die „Methode Paulo Freire" genannt wird, in der Tat zunächst in dem Lernen der Lehrer oder Koordinatoren, wenn sie in den „Suburbios" der Städte oder in die Dörfer des Hinterlandes gehen: in dem Lernen der sprachlich-kulturellen Sujets und dem Verstehen der Mythen, des Alltagswissens und der Funktionsweise von sozialen Mechanismen - so grundlegend für das Tag für Tag ablaufende Leben eines Dorfes oder einer Favela. Erst danach ist für den Lehrer die Chance gegeben, das für das Lernen nach Paulo Freire fundamentale dialogische Prinzip aufzubauen, das Freire aus dem Grunderfordernis des Menschen nach kommunikativem Austausch herleitet. Nur in der Kommunikation mit anderen verwirklicht der Mensch sein soziales Wesen, sein Menschsein - so das Credo Paulo Freires.

Wörter, Sätze, sprachliche Strukturen werden deshalb - der Methode Paulo Freire folgend - von den Alphabetisierenden nicht in den Köpfen der Lernenden deponiert wie Geldbündel in einer Bank (von Freire beziehungsreich als educacao bancaria kritisiert), sondern in einem dialogischen Austauschprozeß zwischen Lehrer und Schüler als Codes des Lebensprozesses in seinen verschiedenen Aspekten und Dimensionen erarbeitet. Erst wenn die gelebte Wirklichkeit zur umfassend sprachlichen Wirklichkeit geworden ist, wenn also die Instrumente der Sprache zum Problematisieren, Verstehen, Artikulieren, Entäußern eigener und fremder Lebenswelt nutzbar geworden sind und deren bewußte Aneignung ermöglichen, dann hat eine erfolgreiche Alphabetisierung stattgefunden: Die Menschen haben sich selbst und ihre Fähigkeiten entdeckt und werden Subjekte ihres Handelns, sie werden fähig, sich und ihre Umwelt selbstbewußt zu gestalten, zu verändern - die Praxis der Freiheit zu leben.

Sprache ist in diesem Kontext für Paulo Freire das Medium, das Wissen und Handeln verbindet und zugleich in einen sozialen Kontext stellt, sie ist Ausdruck einer humanen Konstante: der Notwendigkeit zur Kommunikation. Diese Bedeutung von Sprache hat schon sehr früh sein pädagogisch-wissenschaftliches Denken bewegt: Sprache ist ein fundamentaler Schöpfungsakt des Menschen, sie stellt soziale Macht dar und gibt immer den sozialen Kontext wider, in dem sie zustande kommt, vor allem auch „wie" in einem gegebenen Kontext Sprache entsteht und „wie" Sprache dort angewendet wird. Nicht von ungefähr kommt, daß Paulo Freire seine ersten Schritte als Erzieher als Lehrer der portugiesischen Sprache an einem „colégio" (Oberschule mit dem Namen „Osvaldo Cruz") machte, wo er auch seine Schulzeit verbracht hatte.

Paulo Freire hat zahlreiche kleinere sprachwissenschaftliche Analysen verfaßt, in denen soziale Inhalte und Entstehungsprozesse von Sprache - vor allem den pädagogischen Prozeß im Blick - dargelegt werden, die jeweils als bedeutsame Teile in seine Hauptwerke eingingen. So analysierte er in den fünfziger Jahren zahlreiche Sprachlernhefte („cartilhas") im Hinblick auf ihre Sprachvermittlungstechniken und die dabei verfolgten immanenten sozialen Gehalte. Er kritisierte dabei den vorgeblich neutralen, lebensfremden Gehalt der meisten „cartilhas", die sträflich mißachten, daß Wissenserwerb immer mit jemandem und für jemanden erfolgt - also im Spannungsfeld unterschiedlicher sozialer Kontexte und Interessen stattfindet. Die Mißachtung des somit erforderlichen dialogischen Prinzips im pädagogischen Prozeß führe dann seiner Ansicht nach zur Ideologisierung des Spracherwerbs, zur Instrumentalisierung der Sprache als Sprache der Unterdrückung.

Exemplarisch wurde diese Problematik von Paulo Freire in der 1970 erschienenen Schrift Extensão ou Communição (in deutsch unter dem etwas mißverständlichen Titel Pädagogik der Solidarität erschienen) ausgearbeitet, in der das in dem Begriff „Extension" zusammengefaßte Konzept der klassischen brasilianischen ländlichen Sozial- bzw. Beratungsarbeit von seiner dialogischen Leistung und seiner sozialen Determination her gesehen kritisch analysiert und seinem eigenen kommunikationsorientierten Konzept der conscientização gegenübergestellt wird.

Einklang von Methode und Theorie

Hieran wird auch deutlich, wie wichtig für Paulo Freire ist, daß der Prozeß des Lernens nicht ins Hintertreffen zu seinem Inhalt geraten darf: Die Erziehung zur Freiheit, zur Selbstbestimmung, gelingt nicht mit Bajonetten im Hintergrund. Demokratie ist Voraussetzung für das Lernen, unabdingbar mit dem Dialog verbunden. Die - wie Paulo Freire sagt - „antidialogische Aktion" im pädagogischen Prozeß stellt hingegen eine „kulturelle Invasion" dar, zerstört Identitäten, unterwirft und macht den Menschen zum Objekt des Handelns der Sachverwalter der wie auch immer geratenen sozialen und politischen Systeme. Aus der Dialektik von Inhalt und Methode im Erziehen erschließt sich auch das eigentlich Besondere des pädagogischen Denkens und Handelns Paulo Freires: Erziehen und Lernen ist eine den Menschen befreiende Aktion, sie ist die Praxis der Freiheit, so auch der Titel seines ersten grundlegenden Werkes Educacao como Prática da Liberdade (1967, dt.: Erziehung als Praxis der Freiheit) und erinnert in einem tiefen Sinn an Utopie bei Ernst Bloch, die ja konkret im Sinne der „Verwirklichung einer menschmöglichen Würde" (Ernst Bloch, Tübinger Einleitungen in die Philosophie) im hic et nunc sein will. Pädagogik schöpft dann ihren prozessualen Anstand aus dem „Noch-nicht-sein" solcherart nun pädagogisch zu nennender Utopie.

Paulo Freire konnte deshalb auch niemals ein Repräsentant einer „neutralen" Pädagogik werden. Er ist einer ihrer vehementesten Kritiker, so unter anderem in seinem Werk Ideologia e Educacao: Reflexões sobre a não-neutralidade da educação (1981, Ideologie und Erziehung: Refexionen über die Nicht-Neutralität der Erziehung) dokumentiert. Pädagogik ist für ihn die Pädagogik der (nicht „für" die) in den Gesellschaften unterdrückten, armen und elenden Bevölkerungsteile (so artikuliert im Titel des wohl am meisten verbreiteten Werkes Pedagogia do Oprimido, 1970, dt.: Pädagogik der Unterdrückten: Bildung als Praxis der Freiheit). Pädagogik hat einen untrennbaren, humanen Auftrag, der in Gesellschaften sozialer Ungerechtigkeit und Unterdrückung unwiderruflich zu einem politischen Auftrag der Pädagogik wird: Den Schwachen in der Gesellschaft, den Unterdrückten durch den Zugang zur Bildung die Hoffnung zurückzugeben, den Weg aus eigener Kraft herausfinden zu können - wieder Subjekte des eigenen Lebens zu werden. Deshalb führt die Logik des pädagogischen und wissenschaftlichen Schaffens Paulo Freires auf den Weg von der Pedagogia da Libertação zur Pedagogia do Oprimido hin zur Pedagogia da Esperanca (1992, Pädagogik der Hoffnung) - ein Zyklus, der das Denken und Handeln des Menschen Paulo Freire auch in seinem persönlichen Schicksal umschreibt.

Das dokumentiert sich für mich vor allem in dem bruchlosen Fortführen seiner theoretischen wie praktischen Ansätze in der schweren Zeit des Exils (1964-1979). Der Schmerz dieser Zeit bestand für ihn in der Verfemung seiner Pädagogik in Brasilien durch die Militärdiktatur, so vor allem in der zur Methode Paulo Freire als Gegenmodell gedachten Pervertierung von Alphabetisierungskampagnen zu einer von den Bajonetten getragenen Modernisierungspädagogik, die Analphabetismus „ausmerzen" wollte, weil er nicht in die Vorstellung eines modernen Brasiliens paßte, das sich angeblich auf dem Weg in die brasilianische Version des „Wirtschaftswunders" befand. Im Exil verfaßte er seine wissenschaftlichen Hauptwerke und schuf für viele Länder - als Beispiele seien Chile, Sao Tomé und Príncipe erwähnt - erfolgreiche, praktisch erprobte Erwachsenenbildungsprogramme, die an seine bahnbrechende Arbeit in Brasilien vor der Militärdiktatur in den fünfziger und sechziger Jahren anknüpften.

Ebenso nahtlos setzte er das Resümee all dieser Erfahrungen nach der endgültigen Rückkehr nach Brasilien 1980 - vor allem auch als Senator für Erziehung („secretário de educacao") der Stadt Sao Paulo - in zahlreichen öffentlichen und privaten Bemühungen fort, wenn auch jetzt zunehmend die Reform der Schule als Ganzes zum Zentrum seiner Bemühungen wurde und er sich mehr und mehr der politischen Durchsetzung seiner Reformvorstellungen in dem sich redemokratisierenden Brasilien widmete. Sao Paulo wurde nicht von ungefähr zum Zentrum seiner wissenschaftlichen, pädagogischen und politischen Aktivität: Diese Stadt ist das Ballungszentrum der wirtschaftlichen und politischen Macht Brasiliens und zugleich die „Heimstatt" von Millionen migrierten „Nordestinos". In Brasilien sagt man, daß Sao Paulo die größte Stadt des Nordostens sei, vermutlich wohnen in den unzähligen Elendsquartieren dieser Stadt mehr „Nordestinos" als in den größten Städten des Nordostens zusammengenommen.

Paulo Freire ist Zeit seines Lebens ein Erzieher im praktischen und politischen Sinn geblieben. Theoretisieren ist wichtig für ihn, da eine theorielose Praxis ihm sinnlos und gefährlich erscheint: allzu leicht kann sie so zum Instrument menschenverachtender Macht werden. Der Erzieher muß begründen und einordnen können, was er tut - aus Verantwortung dem gegenüber, der am Erziehungsprozeß meist als der Schwächere teilnimmt. Politisch ist er in seiner Pädagogik geblieben, weil eben dieser Schwächere, Benachteiligte von Bildung erwartet, daß sie ihm Mittel an die Hand gibt, die Verbesserung seiner Lebensbedingungen selbst in Angriff nehmen zu können.

Das erfordert in den meisten Gesellschaften, vor allem aber in Freires Heimatgesellschaft, dem Nordosten Brasiliens, die schwierige Auseinandersetzung mit sozialen und politischen Eliten, die hier die zählebigen Repräsentanten des sozialen Unrechts sind. Der Erzieher, der Alphabetisierer ist in diesem Kontext ganz praktisch gefragt, wie er mit dem Sinn, dem Anforderungscharakter der Worte umgeht. Die Antwort im Sinne Paulo Freires kann nicht heißen, sie ihres, das Elend beschreibenden und handlungsleitenden Charakters zu entkleiden, also zu objektivieren, zu neutralisieren. Im Gegenteil, in solch ungerechten Gesellschaften, in denen Sprache als „Sprache der Unterdrückung" im gesellschaftlichen Leben dominiert, ist der Erzieher vorab gefordert, eine „Archäologie" der Worte im Sinne Foucaults zu betreiben, um Sprache aus ihren herrschaftorientierten Verkrustungen herauslösen zu können.

Ziel ist, daß Sprache schließlich zur lebensverbessernden, weil handlungsanleitenden Macht im Leben von gesellschaftlich Benachteiligten, von marginalisierten Bevölkerungsgruppen werden kann. Das ist in ihrem tieferen Sinn die politische Parteinahme, die politische Aktion, der sich der Erzieher - gewollt oder ungewollt - zuordnet, wenn er „erfolgreich" alphabetisieren, erziehen und - nicht zuletzt - sich selbst verwirklichen will. Deshalb ist - um auf den Kernbegriff der Pädagogik Paulo Freires zurückzukommen - die conscientizacao der Lernenden zugleich auch diejenige der Lehrenden, sie ist ein universeller Prozeß gesellschaftlicher Entwicklung, die die Würde der handelnden Subjekte wiederherzustellen sucht, jenseits aller Barbarei. Sie widersteht dem naiven Idealismus europäischer Aufklärung, der in seiner Geschichte nicht immer die Kongruenz von Mittel und Zweck bewahrte. Paulo Freire ist für mich mit Fug und Recht Pädagoge der Befreiung, der Freiheit. Das ist seine Aktualität für die Gegenwartsgesellschaften in unserer „einen" Welt.

Die erzwungene Migration, das fatale Sinnbild des Nordosten Brasiliens, ist auch das Schicksal Paulo Freires: Politische Willkür ließ ihn zum Migranten, zum Weltbürger werden, ebenso wie soziale Willkür Millionen Nordestinos bis heute aus dem Nordosten vertreibt, ohne ihn den Besonderheiten von Kultur und Menschen des Nordostens zu entfremden. Paulo Freire ist mit Leib und Seele „Nordestino" geblieben. Die Erfahrung von Leid, Schicksal und Kultur seines Volkes ist meines Erachtens die elementare Triebkraft für das Entstehen, Originalität und vor allem für die Wirksamkeit seines pädagogischen Ansatzes überall in der Welt geworden, wo die Überwindung sozialer Ungerechtigkeit, deren barbarische Insignien Analphabetismus, Krankheit, Hunger und abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit und „Entwürdigung" sind, auf der Tagesordnung auch der Wissenschaften und insbesondere der Pädagogik stehen. Paulo Freire ist - ähnlich wie Carl von Ossietzky - zum bisweilen ungeliebten Mahner für die soziale und politische Verantwortung der Wissenschaften und ihrer Akademien oder besser: jedes einzelnen Wissenschaftlers geworden.