Paulo Freire und die Medizin - Prof. Dr. Manfred Peters im Gespräch mit Dr. med. Ulrike Keim

Frau Dr. Keim, Sie haben seit 1973 an zahlreichen Paulo-Freire-Tagungen teil-genommen. Hat diese Ausbildung einen Einfluss auf Ihren beruflichen Werdegang ausgeübt?

Der Ansatz Paulo Freires ist entscheidend geworden für mein medizinisches Selbstverständnis und mein praktisches Handeln. Ich habe versucht, ein Konzept zu entwickeln, bei dem die Eigenkompetenz des Patienten im Mittelpunkt steht. Für mich wurde Medizin im Laufe der Jahre nicht „Therapie“, sondern Begleitung des Menschen.

Paulo Freire will die herrschende Passivität aufbrechen und den Menschen dazu befähigen, sein eigenes Leben in die Hand zu nehmen, Subjekt und nicht Objekt der Geschichte zu sein. Gilt dies auch für den medizinischen Bereich?

Was ich suche/ versuche ist eine emanzipatorische Medizin. Der Patient soll nicht „be“-handelt werden, sondern selbst handeln. Ich befinde mich mit ihm im Dialog – das Miteinander ist die Basis der gemeinsamen Entwicklung eines Behandlungsplanes mit dem Ausgangspunkt dort, wo der Patient steht, und der gemeinsamen Formulierung eines Zieles im Gesundheitsprozess. Der Patient selbst ist der aktive und kreative Gestalter auf dem Weg zur Gesundheit.

Man könnte den Unterschied zwischen Dialog und schulmedizinischer Behandlung auch Empowerment versus Compliance-Ansatz nennen. In der Compliance-Medizin herrscht eine klare Rangordnung: der Arzt stellt die Diagnose der Krankheitund verordnet die Therapie, der sich der Patient unterzuordnen hat. D.h. beim Compliance-Ansatz geht es um zwei konträre Auffassungen zum Dialog: Erstens wird in den Mittelpunkt die Pathogenese des Patienten gestellt und nicht seine Salutogenese und zweitens kann der Patient nur „verlieren“. Handelt er einmal selbstbestimmt und unterwirft sich nicht der Therapie, ist er nicht mehr complient und somit Schuld an seinem Krankheitsprozess. Der Compliance-Idee eine Absage zu erteilen, heißt sich für die Salutogenese und die Selbstverantwortlichkeit im Dialog zu bekennen. Schuldzuweisungen haben in der dialogischen Medizin nichts zu suchen. Das verstehe ich im Verhältnis Arzt-Patient als medizinischen Dialog.

Freire betont, dass ein wahrer Dialog nicht existieren könne, wo es an der tiefen Liebe für Welt und Menschen fehle, wo es nicht einen intensiven Glauben gebe an den Menschen, einen Glauben an seine Macht, zu schaffen und neu zu schaffen, zu machen und neu zu machen, Glauben an seine Berufung, ein voller Mensch zu sein. Dabei müssten sich die Dialogpartner auf kritisches Denken einlassen. Was bedeutet das für das Verhältnis Arzt-Patient?

Zu diesem Dialog gehört zuerst miteinander zu reden: am runden Tisch – nicht als Machtverhältnis eines Gegenüber am Schreibtisch. Der inzwischen verstorbene argentinische Arzt und Homöopath Alfonso Masi-Elizalde, der meine homöopathische Ausbildung sehr beeinflusste, meint, man soll den Patienten empfangen „wie einen Freund zu Hause“ – die ideale Atmosphäre wäre die eines Wohnzimmers und nicht einer sterilen Arztpraxis. So habe ich auch versucht aus meiner Praxis ein kleines Wohnzimmer zu machen mit gemütlichen Möbeln, schönen Bildern – bei längeren Anamnesen serviere ich Wasser oder Tee.

Zu meinem dialogischen Verständnis zähle ich auch, dass die Patienten etwas von mir wissen, welche Ausbildung ich habe, was ich tue, wo ich gearbeitet habe (in meiner Praxis liegt mein medizinischer Werdegang aus). Mein Tun muss transparent sein und nicht okkult wie oft in der Schulmedizin.

Ein zentraler Punkt des freireschen Ansatzes ist die Arbeit mit generativen Themen. Gibt es hier Übereinstimmungen mit der Homöopathie?

Hier bin ich noch ganz am Anfang der Arbeit, die aber verspricht sehr spannend zu werden. Verblüffenderweise stellte ich eine Ähnlichkeit in der Methodologie des Brasilianers Freire und des Argentiniers Masi fest. Die Basis beider ist die Arbeit mit Themen. Um es kurz zu skizzieren: Nach Masi besitzt jeder Mensch eine Lebensthematik, die seine Wahrnehmung, sein Erleben und sein Streben bestimmt – man kann es auch Lebensthema oder Leitmotiv nennen.

Gemeinsam mit dem Patienten suchen wir in der Homöopathie, dieses Thema zu entwickeln und das Medikament zu finden, das deckungsgleich dieses Thema als Leitmotiv hat. Freire definiert die Suche nach dem generativen Thema so, dass wir fragen nach dem Denken des Menschen über die Wirklichkeit und nach seinem Handeln an der Wirklichkeit, worin seine Beziehungen mit der Welt begründet sind. Welch eine erstaunliche Überschneidung der Methodologie!

Ich glaube, da sich Freire und Masi in ihrem philosophischen Ansatz zum Teil decken – in der existentialistische Grundlage des Denkens –, zum Teil sehr unterscheiden – besonders bezogen auf das Daseinsziel des Menschen –, dass es für mich oder auch andere Medizinerinnen und Mediziner einen Fortschritt bedeuten könnte, diese beiden Ansätze näher zu untersuchen und in unser Handeln einzubeziehen.

In der bewusstseinsbildenden Pädagogik spricht man vom „globalen Lernen“. Mit dem Blick auf das erfahrungsbezogene Lehren und Lernen schließt diese pädagogische Strategie die Fähigkeit ein, darüber nachzudenken und zu erkennen, welche Beziehungen jeweils zu den Mitmenschen oder zur Umwelt bestehen. Sind solche holistischen Ansätze auch in der Medizin vertreten?

Schon vor mehreren Jahrtausenden gab es in China holistische Konzepte von Gesundheit, Krankheit und Therapie. Auch der Urvater der Medizin im europäisch-nahöstlichen Raum, Hippokrates, folgt einem naturnahen ganzheitlichen Verständnis, das sich im Laufe der Jahrhunderte in Spezialisierungen aufgesplittert hat. In vielen alternativen Richtungen wie der Homöopathie und der Akupunktur wird der Mensch als eine Einheit von Körper, Seele und Geist betrachtet. In der Therapie tritt an die Stelle der Behandlung von Symptomen der Versuch einer Heilung von innen heraus, wobei die Beziehungen zu den Mitmenschen und der Umwelt durchaus mit einbezogen werden.

Keine Bewusstseinsbildung ohne Entmythologisierung, heißt es in der freire-schen Pädagogik. Gibt es ähnliche Prozesse in der von Ihnen praktizierten Medizin?

Lassen Sie mich den Begriff „Entmythologisierung“ unter dem Gesichtspunkt der Homöopathie und der Archetypenlehre von C.G. Jung betrachten. Jung versteht unter einem Archetypus ein Symbol des kollektiven Unterbewusstseins der Menschheit. Wie jeder ein Unterbewusstsein besitzt, so hat auch die Menschheit durch ihre Erfahrung, Vererbung, Erziehung, Anpassung, Adaptation, Religion und Mystik ein kollektives Unterbewusstsein entwickelt, an dem jeder Mensch teilhat. Diese Archetypen wirken als Symbole autonom in der Tiefe der menschlichen Psyche. Wir erfahren diese archetypischen Kräfte in unseren Träumen, Visionen, Gedanken beim Erwachen, worin sie als Bilder erscheinen.

In der Homöopathie finden wir umso besser das für eine Person passende kongruente homöopathische Mittel, wenn wir im anamnestischen Dialog die prägenden Archetypen analysieren, in ihrer Wirkung begreifen und entmythologisieren. Dieser Vorgang ist holistisch. Die entscheidende Frage ist immer: wo ist der Schnittpunkt zwischen einer archetypischen Situation und dem konkreten Lebenskontext des Betreffenden. Nur wenn wir die transpersonalen und suprapersonalen Kräfte, die auf uns einwirken, erkennen, sind wir in der Lage das tief greifende homöopathische Mittel zu finden.

Das klingt ja spannend. Haben Sie Beispiele für diese homöopathische Arbeit.

Zwei konkrete Beispiele dazu: In einem kürzlich erschienenen Beitrag mit dem Titel „Eros und Tod oder eine Blume des Bösen. Homöopathische Untersuchung des Romans Dr. Faustus von Thomas Mann“ (Erfahrungsheilkunde 2006, S.  5-14) habe ich gezeigt, dass dieses Werk eine geniale Schilderung des syphilitischen Miasmas ist, wobei die Essenzen des Romans Eros und Tod, Licht und Schatten, Gott und Teufel sind. Auch hier handelt es sich um Archetypen. Der Protagonist des Romans ist diesem Spannungsfeld ausgesetzt und muss zwangsläufig an Syphilis erkranken. Er ist sich der auf ihn einwirkenden und in seinem Selbst befindlichen zerstörerischen Kräfte nicht bewusst, mit der Folge, dass er die Archetypen nicht entmythologisieren und seinem Schicksal nicht entkommen kann – symbolisiert im Pakt mit dem Teufel.

In der Sprache der Homöopathie ausgedrückt, erliegt er seinem syphilitischen Miasma: Zerstörung und Destruktion. Es kann keine Befreiung geben – der einzige Dialog im Dr. Faustus ist der „Teufels-Dialog“ – das Gegenteil eines Dialoges. Wenn kein Dialog stattfindet, siegen die unbewussten Archetypen, der unerkannte Mythos und die „dunklen Kräfte“ personell und gesellschaftlich.

Das zweite Beispiel aus meiner eigenen Praxis betrifft einen frühpensionierten Gymnasiallehrer für Mathematik. Das für den Patienten kongruente homöopathische Mittel war Aurum, das als Essenz folgende Themen hat: Macht, Streben nach Erfolg, Autorität, Sonne, Männlichkeit, Rhythmus der Gestirne. Der Patient gibt an, dass er zu seinem Vornamen (Joseph) über Thomas Manns Roman-Tetralogie „Joseph und seine Brüder“, worin ein Doppeltraum Josephs von den Garben und Gestirnen angeführt wird, Zugang gefunden habe: Joseph träumt von den Garben der Brüder, die im Kreis um seine Garbe stehen und sich vor ihm verneigen; dann, in einer großartig angelegten, gleichsam kosmisch überhöhten Verarbeitung desselben latenten Traumgedankens, von Sonne, Mond und elf Sternbildern, die sich wiederum im Kreis um ihn anordnen und ihm ihre Reverenz erweisen.

Er erzählt beide Träume der Familie, und die Reaktion ist dementsprechend: „Da sprachen seine Brüder zu ihm: Sollst du unser König werden und über uns herrschen? Und wurden ihm noch feinder um seines Traumes und seiner Rede willen“ (Genesis 37,8). Nach dem Sternentraum, „strafte ihn sein Vater“, wie es bei Luther heißt, und sprach zu ihm: „Was ist das für ein Traum, der dir geträumt hat? Soll ich und deine Mutter und deine Brüder kommen und vor dir niederfallen?“ (ebd. 37,10).

Hier liegt also eine handfeste Traumdeutung ad hoc vor, vorgenommen durch die Familienangehörigen. Die Brüder begreifen sofort, dass die Garben traumsymbolisch sie selbst und Joseph repräsentieren sollen, der sich im Hochmut seines Traums über sie erhebt; der Vater wiederum erkennt in der Figuration des Gestirntraums dasselbe psychologisch zu-grunde liegende Motiv. Die narzisstische Selbstüberschätzung, die sich in Josephs Träumen ihren bildhaften Ausdruck gesucht hat, bestimmt den weiteren Fortgang der Handlung: Joseph wird von den Brüdern betraft, die ihn nach Ägypten verkaufen (vgl. Berger, Wilhelm Richard, Der träumende Held. Untersuchungen zum Traum in der Literatur. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2000, S. 64). Die bewusstseinsbildende Tragweite einer solchen Traumdeutung liegt auf der Hand.

Das ist für mich themenbezogenes Arbeiten, Erkennen der Archetypen, Entmythologisieren und Bewusstwerden der Symbolik im Leben und in der homöopathischen Arbeit. 

Dr. med. Ulrike Keim ist Fachärztin für Innere Medizin mit den Zusatzbezeichnungen Naturheilverfahren, Homöopathie und Klinische Geriatrie. Schwerpunkte ihrer Bonner Praxis sind Anti-Aging- und Diabetes-Behandlungen. Zahlreiche Veröffentlichungen, u.a. (zusammen mit Christian W. Engelbert) Start in die besten Jahre. Das biologische Anti-Aging-Programm, Baden-Baden, Aurelia-Verlag, 2005. Sie ist international tätig als Referentin für Homöopathie und Naturheilverfahren.

Prof. Dr. Manfred Peters ist Präsident der von Friedensnobelpreisträger Dominique Pire gegründeten Friedensuniversität in Namur, (Belgien), Ordinarius für Linguistik an der Jesuiten-Universität Notre Dame de la Paix in Namur und Vorsitzender des Verbandes der geisteswissenschaftlichen Fakultäten von mehr als 50 Universitäten in frankophonen Ländern. Er führt weltweit in Europa, Afrika, Asien und Amerika Veranstaltungen zur Pädagogik Paulo Freires durch.

Prof. Dr. Manfred Peters
Université Notre Dame de la Paix
Namur, Belgien

E-Mail: Manfred.Peters@fundp.ac.be