Theologie

Kultur des Schweigens - Befreiungstheologie

von Dominik Bender

Leonardo und Clodovis Boff: Wie treibt man Theologie der Befreiung?

Seit Jahrzehnten werden Pfarrer aus der Ersten Welt bei Ankunft an ihrem Missionsort beispielsweise in Lateinamerika mit grauenhaften Zuständen konfrontiert. Dabei hatten sie zuhause unter dem Eindruck staatlicher Entwicklungshilfe wie viele der Bewohner der Industriestaaten ein gutes Gewissen gehabt. Erschreckt zogen viele selbstlose Konsequenzen. Von den wenigen Hungernden dieser Gebiete, denen beispielsweise durch Stipendien im Rahmen von Entwicklungshilfe der soziale Aufstieg ermöglicht worden war, wendete sich eine große Zahl wieder den randständigen Menschen zu. Ein Zeugnis solcher Menschen ist das Buch "Wie treibt man Theologie der Befreiung?" der Brüder Leonardo (1938) und Clodovis (1944 ) Boff entnommen. Beide sind in Südbrasilien geboren, Ordensleute und Theologen.

Erklärungsansätze für das Fehlschlagen in der ersten Entwicklungsdekade (1955-1965)

Während sich die europäische Theologie ganz anderen Fragen widmet, nämlich beispielsweise in Auseinandersetzung mit der Aufklärung des Zusammenhangs zwischen christlichem Glauben und Vernunft, sucht die Befreiungstheologie den Weg zum Aufstieg der Würdelosen, Entrechteten zu Menschen. Die Befreiungstheologie muß die Frage nach dem Ob des Glaubens nicht beantworten, denn der Glaube liegt ihr zugrunde. Im Prinzip ist die Befreiungstheologie eine Reaktion auf das oben gezeigte offensichtliche Fehlschlagen der Hilfe in der ersten Entwicklungsdekade. Ihre Grundlage findet die Befreiungstheologie in Reflexion auf Erfahrungen und die Praxis der Basisgemeinden. Dabei hat sie aber immer das Ziel erneuter Praxis im Auge. Sie ist eine situationsbezogene Theologie, die nur in ihrem konkreten geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext (Abhängigkeitssituation) verstanden werden kann. Ihren Ursprung hat sie in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre in den Problemzonen, in den Ländern Lateinamerikas. Christen und Theologen, oft selber in Entwicklungsprogramme kirchlicher Organisationen involviert, mußten den Erfolg der Maßnahmen der ersten Entwicklungsdekade (Assistentialismus, der das Volk zum Objekt der Mildtätigkeit macht, niemals aber zum Subjekt der eigenen Befreiung, ohne zu beachten, daß es durch andere unterdrückt und arm gemacht wird, ohne zu beachten, daß sie Bewußtsein für ihre Rechte besitzen, keine Hilfe zur Selbsthilfe) und Reformismus (behutsames Verändern des Systems, Brasilien wirtschaftlich 1964 an 46. Stelle, 1984 an 8. Stelle, Rückschritt jedoch in sozialen Verhältnissen ) angesichts der immer bedrückenderen Zustände in Frage stellen. Diskutiert wurden drei Erklärungen für die Unterentwicklung:

  • Die empiristische (auf angebliche Erfahrung begründet; Vertreter z.B. Kolonialherren) Erklärung macht die Menschen mit ihren Eigenschaften wie Ungenauigkeit, Trägheit und Unwissenheit verantwortlich. Vor Ort kann diese Erklärung aber nicht bestätigt werden, sie berücksichtigt außerdem weder politische noch gesellschaftliche Faktoren.
  • Die funktionalistische (Armut ist die Funktion, das Ergebnis von Rückständigkeit) Antwort sieht Armut in Rückständigkeit begründet und setzt diesem Zustand Fortschritt entgegen. Dieser lang verfolgte Lösungsansatz führt aber offensichtlich zu der Stärkung kleiner elitärer Gruppen (peripherer Kapitalismus, transnationale Konzerne) ohne die katastrophalen sozialen Verhältnisse der Masse zu bessern.
  • Die strukturelle Erklärung erkennt die Armut als Folge jahrhundertelanger und gegenwärtiger sozio-ökonomischer Unterdrückung bzw. politischer, ökonomischer, kommunikativer und kultureller Abhängigkeit. Der Ursprung wird in der Eroberung durch christliche Europäer gesehen, die im Bewußtsein der Überlegenheit ihrer Religion, Rasse und Kultur den Einwohnern das Land raubten, sie ausrotteten, versklavten und ihnen eine fremde Kultur aufzwängten. Dies wird am Zentrum-Peripherie-Modell oder der sogenannten Dependenz-Theorie deutlich.

Die Dependenz- und Imperialismustheorie beschreibt das Hauptinteresse der Industrieländer als die Erweiterung ihrer Einflußsphären. So werden eine kulturelle Abhängigkeit (Übernahme des Schulsystems in der ersten Entwicklungsdekade, Mißachtung der einheimischen Traditionen und Religionen, europäisch geprägtes Christentum), eine politische (Organisation der Lateinamerikanischen Staaten unter der Dominanz der USA, Antikommunismus der USA, der sogar Diktaturen unterstützte), eine kommunikative (Medien in der Hand einiger reicher, pro-Metropolen Familien) und eine ökonomische (multinationale Konzerne, Abhängigkeit vom innovativen Sektor der Triade). Als Brückenköpfe werden die aufstrebenden Großstädte in den Entwicklungsländern bezeichnet. Hier handeln die Eliten gemäß dem Interesse der Metropolen und machen sich diese zu eigen.

Lösungsansätze der Befreiungstheologie

Auf die Reflexion der Praxis folgt wie gesagt die erneute Praxis. Aus den Erfahrungen, die christliche Theologen und Helfer vor Ort in langer Zeit gewonnen haben, hat sich ein neues Konzept der Entwicklungspolitik ergeben. Die Bedeutung dieser Erfahrungen verdeutlichen die Aussagen vieler Befreiungstheologen: Sie stellen fest, daß richtige, erfolgversprechende Hilfe nur nach langem Kontakt mit den Unterdrückten möglich ist. Einige gehen sogar so weit und meinen, daß für den Außenstehenden die Befreiungstheologie kaum erschließbar ist. Die Befreiungstheologie kann nur von NGOs aufgenommen werden, denn sie stellt das herrschende System in Frage. Ihre Losung lautet: "Befreie den Armen und Unterdrückten." (Die Armen sind aber nicht Objekt, sondern Subjekt dieses Prozesses.) Ihre konsequente Befolgung zieht nach sich, was die Befreiungsethik, wie wir später sehen werden, explizit fordert: Als Lösung wird die Veränderung des Systems, die Systemüberwindung propagiert.

Im Unterschied zur staatlichen Entwicklungspolitik, die oft von oben verordnet wird, geht die Veränderung im Sinne der Befreiungsethik von den Betroffenen, den Basisgruppen aus. Damit wendet sie sich gegen die Verantwortlichen, die in aller Ruhe die Ansicht unterstützen, daß es unmöglich wäre, Nicht-Fachleute außer als Empfänger auch als Mitwirkende und Gestalter in die Entwicklungshilfe einzubeziehen.

Denn der lange persönliche Kontakt mit den Unterdrückten hat gezeigt, daß bei den Betroffenen ein Bewußtsein für ihre Situation geschaffen werden kann und muß. Es muß also nach dem Bewußtsein der Betroffenen über ihre Situation gefragt werden. Wie jeder Mensch haben sie das Bedürfnis nach Freiheit, Selbstverwirklichung und menschlichen Lebensbedingungen. Dieses können sie mangels Verständnisses des Systems und Kenntnis ihrer Rechte nicht artikulieren.

Bisher zeigt sich also, daß die Befreiungstheologie Erkärungsmuster und Lösungsansätze bereitstellt, um zusammenhängendes, erfolgsversprechendes Handeln in geordneter Form zu ermöglichen.

Hermeneutische Methode

Die Theologen stellen nun aber die Frage, was die Bibel zu der sozio-politischen Analyse sagt. Diese religiöse Schriftenauslegung nennt man Hermeneutik oder hermeneutische Methode. Tatsächlich ruft die Bibel zu einer Umgestaltung der sündhaften Wirklichkeit auf. Besonders sind Texte, in denen es um die soziale Komponente geht: Zu der Krippe kommen nicht wie bei Mattäus Weise aus dem Morgenland, sondern Hirten, die vor den Toren der Stadt wohnen. Aus dem Lobpreis der Maria (aus der einfachen Schicht) auf Gott: "Mächtige stürzt er [Gott] vom Thron / und Niedrige erhöht er." (Deutung von Lukas) Die Seligpreisung aus der Bergpredigt: "Selig, ihr Armen, denn euer ist das Reich Gottes." (bei Mattäus: "Selig sind die Armen im Geiste" Reiche müssen nur im Geiste arm sein) Ein viertes Beispiel sei der Bekanntheit wegen nur angedeutet: Der Auszug der Israeliten aus dem Sklavenhaus Ägypten mit Hilfe Gottes. Deshalb darf die Frage nicht lauten "Wie kann man gut sein in Ägypten?", sondern wie Mose fragt, "Wie kann man aus Ägypten ausziehen?". Die Praxis Jesus entspringt seinem Gottesglauben und ist eine Praxis der Befreiung.

Praktische Arbeit

Ziel der Befreiungstheologen ist Weckung der latenten Kräfte und Forderungen der Unterdrückten. Die Arbeit findet zunächst als Bildungsprogramm für die Betroffenen statt. Hier arbeiten Pädagogen, Sozialwissenschaftler, Psychologen und Theologen in einer Hand: Die Befreiungstheologie ist zu einer interdisziplinären Bewegung geworden. Erfahrungen aus der Bildungsarbeit haben zu der Etablierung einer neuen Vorgehensweise geführt: Der Lehrer tritt nicht als Lehrender auf, sondern lernt im Dialog. Sie regen eine Befreiung mehr an, als daß sie sie leiten.

Während des Prozesses des Handelns werden zunächst Strategien und Taktiken ausfindig gemacht, die auch als kleine Schritte auf eine Veränderung des Systems zielen und die Verbindung zu anderen Gruppen suchen. Mit Ideen, Anregungen und Erkenntnissen, die, ausgehend von den Unterdrückten, auf der ersten Ebene gemacht werden, beschäftigen sich die Theoretiker auf den höheren Ebenen:

Über den Basisgemeinschaften steht die zweite Ebene der pastoralen Mitarbeiter, die Hilfe bereitstellt und koordiniert. Auf der dritten Ebene stehen die Berufstheologen, die grundlegende Prinzipien und Hypothesen überdenken.

Die zwei unteren Ebenen anhand von Beispielen:

Ernesto Cardinal hat in "Das Evangelium der Bauern von Solentiname. Gespräche über Jesus in Lateinamerika" eine umfangreiche Dokumentation von Gesprächen in der Basisgemeinde angelegt. Auf dieser Ebene finden Konfrontation von Leben mit Evangelium statt. Das Evangelium wird gelesen und dem unterdrückten und nach Befreiung verlangendem Leben gegenübergestellt.

Leonardo und Clodovis Boff zeigen in "Wie treibt man Theologie der Befreiung?" die Schritte einer "Theologie von Grund und Boden" auf. (siehe dort)

Bekannte Vertreter der Befreiungstheologie

Ernesto Cardenal (1925 in Nicaragua) stammt aus einer reichen Familie. Er studierte in den USA Philosophie und Literatur. Nachdem die April-Rebellion 1954 in Nicaragua gegen Somoza (von den USA wegen Antikommunismus unterstützt) scheitert, tritt er einem Orden bei, nach einem Aufenthalt in Mexiko und seinem Theologiestudium wird er in seinem Heimatland Priester, und zwar auf einer der Solentiname Inseln im Großen See von Nicaragua. Dort kann er die Gründung einer Genossenschaft mit den Indios der umliegenden Inseln anregen. Seine gesamte Arbeit hat er als leidenschaftlicher Dichter dokumentiert, so das Zusammenleben und -arbeiten mit den Bauern und Fischern auf diesen 38 Inseln in "Das Evangelium der Bauern von Solentiname". Der Diktator Somoza hat die Einrichtungen in Solentiname zerstören lassen. Cardenal geht als katholischer Priester in den Untergrund, die Guerillabewegung hat gesiegt, und Cardenal wurde Erziehungsminister. "Kein Gebot ist so wichtig, daß es einen daran hindern kann, dem Mörder das Morden zu verwehren." (auf die Frage, warum er in den Untergrund ging).

Paulo Freire (1921 in Brasilien), begann 1947 mit der Alphabetisierungsarbeit in Slums (Favelas) und Landarbeitersiedlungen Brasiliens. Als Bildungsexperte der UNESCO entwickelte er seine Methode weiter. 1964 wurde er aus Brasilien nach dem Staatsstreich von der Regierung Medici ausgewiesen. Danach übernimmt er verschiedentlich bedeutende Stellen als Experte für politische Bildung. Er ist Autor der "Pädagogik der Unterdrückten" und "Erziehung als Praxis der Freiheit".

Leonardo Boff (1938) schrieb weitere Texte, deren Titel allein schon aufschlußreiche Hinweise sind: "Theologie hört aufs Volk", "Die Neuentdeckung der Kirche - Basisgemeinden in Lateinamerika", "Und die Kirche ist Volk geworden" und "Jesus Christus der Befreier".

Dom Helder Camara (1909 in Sao José) war Priester und Erzbischof von Recife, seiner Heimatstadt. Lange reiste er durch die Welt, um für seine Aktion "Gerechtigkeit und Frieden" verschiedenste Institutionen zu gewinnen. Traurig mußte er feststellen, daß sie alle keine mutigen und entscheidenden Schritte tun werden, weil sie sich an den Durchschnitt halten und direkt oder indirekt in das Räderwerk der kapitalistischen Gesellschaft eingefügt sind. Deshalb bilden seine neue Hoffnung die Männer und Frauen in der Welt, gleich welchen Glaubens, die noch frei und mutig sind, in Wahrheit und Gerechtigkeit eine menschlichere Welt aufzubauen: die Unterdrückten. Ein Titel von ihm lautet "Die Wüste ist fruchtbar.

Paulo Evaristo Arns (1921 in Brasilien) ist mit seinem Einsatz gegen die Folter als Erzbischof von Sao Paulo (ist Kardinal, ist aus seinem Palast in die Slums gezogen) ein weiterer wichtiger Repräsentant der Befreiungstheologie.

Gustavo Gutierrez nennt man den Vater der Befreiungstheologie und schrieb das erste Buch mit dem Titel "Theologie der Befreiung", lebt in Lima Peru, war dort Studentenpfarrer und hat sich um die Menschen in den Slums gekümmert. Sagte Vortrag bei einem internationalen theologischen Kongress ab mit der Begründung: "Es gibt Situationen, in denen es wichtiger ist, für die Armen Suppe zu kochen, als theologische Vorträge zu halten."

Ausblick

Die Ethik der Befreiung ist mit ihrem bedeutendsten Vertreter Enrique Dussel erst nach der Befreiungstheologie entstanden. Die Ethik der Befreiung ist eine Philosophie der Wirklichkeit, während sich andere der Unterdrückung angepaßt haben. Die Befreiungsethik setzt anstelle vieler Begriffe der Befreiungstheologie philosophische statt religiöse Begründungen und Begriffe. Ägypten in seiner Bedeutung durch den Begriff Totalität ersetzt.

E. Dussel kritisiert, daß alle europäischen Philosophien Totalitätsphilosophien sind: das kapitalistische System ist die Totalität, das Strukturgesetz ist der Tausch - das allem, selbst dem Menschen und der von ihm geleisteten Arbeit, einen Tauschwert zuordnet. Das Kapital dominiert alles und droht die Welt durch die auf Mehrwert und Gewinn ausgerichtete Dynamik zu zerstören. Das System ist beschränkt und intolerant: Jenseits des Systems ist für sie das Nicht-Sein, das Sinnlose, die Barbaren.

Das Neue kann nach E. Dussel nur von der Peripherie her gedacht werden. Die Befreiungsethik ist als die begleitende Reflexion einer Praxis von Basisgemeinschaften entstanden, die sich dem herrschenden System widersetzte. Sie kann deshalb ihren Ansatzpunkt nicht innerhalb des Systems finden, sondern in dem "Außerhalb".

Auch für unsere Kultur darf die Bedeutung der Befreiungsbewegung nicht unterschätzt werden, sondern sollte sogar zum Handeln anregen. Der Blick in unsere Gesellschaft sollte einen Perspektivwechsel im Sinne der Befreiungsethik erleichtern. Oft fehlt es an Wahrnehmung der Mißstände in Europa, in Deutschland: Obdachlosigkeit, Asylanten, Ausländer, Gastarbeiter, Behinderte, alte Menschen. Die Befreiungstheologie hat weit ausgestrahlt: Schwarze Theologie der Befreiung in USA, in Europa beginnt man sich mit dem Problem der "neuen Armen" zu beschäftigen, Theologien, die der Ökologie- und Friedensbewegung nahestehen, feministische Befreiungstheologie.

Hinweis: Diese Seite ist gespiegelt: Das Original findet sich bei Dominik Bender.